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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Team und die andere das Weiße Team.»
    «Und das war der Farbenkrieg.»
    «Für einen Sportfanatiker wie mich war das was Großartiges. In manchen Jahren war ich im Weißen Team, in anderen Jahren im Roten. Dann aber wurde ein drittes Team gegründet, so was wie eine Geheimgesellschaft, eine Bruderschaft Gleichgesinnter. Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht, aber damals war das für mich sehr wichtig. Das Blaue Team.»
    «Eine geheime Bruderschaft. Hört sich für mich nach albernem Jungenkram an.»
    «War es auch. Nein   … eigentlich doch nicht. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, finde ich es überhaupt nicht albern.»
    «Damals musst du anders gewesen sein. Heute willst du nie bei irgendetwas mitmachen.»
    «Damals auch nicht. Ich wurde gewählt. Als eines der Gründungsmitglieder, um genau zu sein. Ich fühlte mich sehr geehrt.»
    «Du warst schon bei den Roten und den Weißen. Was war an den Blauen so Besonderes?»
    «Das ging los, als ich vierzehn war. In dem Jahr hatten wir einen neuen Betreuer, etwas älter als die anderen da –die meisten waren Collegestudenten, neunzehn, zwanzig Jahre alt. Bruce   … Bruce wie-hieß-er-doch-gleich   … der Nachname fällt mir noch ein. Bruce hatte seinen BA und auch schon das erste Jahr seines Jurastudiums an der Columbia hinter sich. Ein dünner, zwergenhafter Bursche, ein überzeugter Sportgegner, der in einem auf sportliche Betätigung spezialisierten Feriencamp arbeitete. Aber scharfsinnig und humorvoll, und dauernd konfrontierte er einen mit schwierigen Fragen. Adler. So hieß er. Bruce Adler. Allgemein bekannt als der Rabbi.»
    «Und der hat das Blaue Team erfunden?»
    «Sozusagen. Genauer, er hat es wieder eingeführt, als Übung in Nostalgie.»
    «Jetzt versteh ich gar nichts mehr.»
    «Ein paar Jahre früher hatte er als Betreuer in einem anderen Camp gearbeitet. Die Farben dieses Lagers waren Blau und Grau. Als am Ende des Sommers der Farbenkrieg ausbrach, kam Bruce in das Blaue Team, und als er sich umsah und merkte, wer mit ihm in der Mannschaft war, stellte er fest, dass es nur Leute waren, die er mochte, vor denen er den größten Respekt hatte. Das Graue Team war das genaue Gegenteil – weinerliche, unangenehme Leute, die Langweiler des Camps. Und seither verband Bruce mit den Worten
Blaues Team
mehr als bloß ein paar läppische Staffelläufe. Sie standen für ein menschliches Ideal, eine fest gefügte Vereinigung toleranter und verständnisvoller Individuen: der Traum einer vollkommenen Gesellschaft.»
    «Das klingt aber reichlich seltsam, Sid.»
    «Ich weiß. Aber so ernst hat Bruce das nicht genommen. Das war gerade das Schöne an dem Blauen Team. Das Ganze war eher ein Scherz.»
    «Ich wusste gar nicht, dass Rabbis Scherze machen dürfen.»
    «Dürfen sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Bruce war kein Rabbi. Bloß ein Jurastudent mit einem Sommerjob, auf der Suche nach etwas Abwechslung. Als er in unserem Camp anfing, erzählte er einem der anderen Betreuer von dem Blauen Team, und die beiden beschlossen, es als geheime Organisation wieder aufleben zu lassen.»
    «Und wie sind sie auf dich gekommen?»
    «Mitten in der Nacht. Ich habe fest geschlafen, und Bruce und der andere Betreuer rüttelten mich wach. ‹Komm mit›, sagten sie, ›wir haben dir was zu sagen›, und dann führten sie mich und zwei andere Jungs mit Taschenlampen in den Wald. Dort hatten sie ein kleines Lagerfeuer vorbereitet, und als wir um das Feuer saßen, erklärten sie uns, was es mit dem Blauen Team auf sich hatte, warum sie uns als Gründungsmitglieder ausgesucht hatten und welche Voraussetzungen man erfüllen musste, um dabei mitmachen zu können – falls wir selbst noch andere Kandidaten empfehlen wollten.»
    «Und was waren das für Voraussetzungen?»
    «Eigentlich nichts Besonderes. Mitglieder des Blauen Teams mussten keinem bestimmten Typus entsprechen, jeder für sich war ein eigenständiger Charakter. Aber es wurde niemand zugelassen, der keinen Sinn für Humor besaß – ganz gleich, wie dieser Humor zum Ausdruck kam. Manche Leute reißen ständig Witze; andere können im richtigen Moment eine Augenbraue hochziehen, und plötzlich wälzen sich alle Anwesenden vor Lachen auf dem Boden. Also, Sinn für Humor, Gefallen an der Ironie des Lebens und Aufgeschlossenheit für das Absurde. Aber auch eine gewisse Bescheidenheit und Taktgefühl,Freundlichkeit, Großmut. Keine Angeber, keine arroganten Idioten, keine Lügner oder Diebe. Ein Mitglied des Blauen

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