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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Teams musste neugierig sein, musste Bücher lesen und sich bewusst sein, dass es die Welt nicht nach seinem Willen formen konnte. Ein scharfsinniger Beobachter, einer, der in moralischen Dingen feine Unterscheidungen zu machen wusste und Sinn für Gerechtigkeit hatte. Einer vom Blauen Team würde dir sein letztes Hemd hergeben, wenn er sieht, dass du es brauchst, aber noch lieber würde er dir zehn Dollar in die Tasche schieben, wenn du gerade nicht hinsiehst. Drücke ich mich verständlich aus? Ich kann das nicht genauer beschreiben, es ist nicht das eine oder das andere. Es ist alles auf einmal, alle diese Eigenschaften hängen miteinander zusammen.»
    «Du beschreibst einen guten Menschen. Schlicht und einfach. Das, was mein Vater einen
anständigen Menschen
nennt. Betty Stolowitz sagt einfach
Mensch
dazu. John sagt:
Kein Arschloch.
Und alle meinen dasselbe.»
    «Mag sein. Aber mir gefällt
Blaues Team
besser. Das weist auf den Zusammenhalt der Mitglieder hin, auf Solidarität. Wenn man im Blauen Team ist, hat man es nicht nötig, seine Prinzipien zu erläutern. Die teilen sich unmittelbar dadurch mit, wie man sich verhält.»
    «Aber Menschen verhalten sich nicht immer gleich. Sie sind in der einen Minute gut und in der nächsten schlecht. Sie machen Fehler. Gute Menschen tun schlechte Dinge, Sid.»
    «Selbstverständlich. Ich rede nicht von Vollkommenheit.»
    «Doch, das tust du. Du redest von Leuten, die in der Überzeugung leben, sie seien besser als andere, die sichuns gewöhnlichem Volk moralisch überlegen fühlen. Ich wette, du und deine Freunde, ihr hattet ein geheimes Begrüßungsritual. Um euch von dem dummen Pöbel abzusetzen, stimmt’s? Damit ihr euch einbilden konntet, ihr würdet über besonderes Wissen verfügen, von dem der beschränkte Rest der Menschheit keine Ahnung hatte.»
    «Gott, Grace. Das war bloß eine harmlose Anekdote von vor zwanzig Jahren. Du brauchst das nicht auseinander zu nehmen und zu analysieren.»
    «Aber du glaubst diesen Mist immer noch. Das höre ich doch in deiner Stimme.»
    «Ich glaube gar nichts. Am Leben sein – daran glaube ich. Am Leben sein, und mit dir zusammen sein. Mehr gibt es für mich nicht, Grace. Nichts anderes, absolut nichts in dieser verfluchten Welt.»
    Mit diesem deprimierenden Misston endete das Gespräch. Mein nicht sehr subtiler Versuch, sie aus ihrer düsteren Stimmung zu locken, hatte eine Zeit lang Erfolg gehabt, aber dann war ich zu weit gegangen und unbeabsichtigt aufs falsche Gleis geraten, und sie hatte mich mit dieser sarkastischen Unterstellung angefahren. Eine so aggressive Reaktion war ganz und gar nicht ihre Art. Grace regte sich selten über solche Fragen auf, und bei ähnlichen Diskussionen in der Vergangenheit (diesen ziellos mäandernden Dialogen, in denen es um nichts Bestimmtes geht, die bloß von einer zufälligen Assoziation zur nächsten hüpfen) hatte sie sich über die von mir geäußerten Ideen eher belustigt gezeigt, sie praktisch nie ernst genommen, nicht mit Gegenargumenten aufgetrumpft, sondern einfach mitgespielt und mich meine unsinnigen Ansichten vortragen lassen. Nicht so an jenemAbend, nicht am Abend des fraglichen Tages, und da sie nun plötzlich wieder im selben Elend versank, das sie schon zu Beginn der Fahrt übermannt hatte, und gegen die Tränen ankämpfte, wurde mir klar, dass sie in echten Nöten steckte, dass sie nicht aufhören konnte, über das Namenlose, das sie quälte, nachzudenken. Ich hätte ihr ein Dutzend Fragen stellen wollen, aber wieder hielt ich mich zurück: ich wusste, sie würde sich mir erst anvertrauen, wenn sie von sich aus zu reden bereit wäre – vorausgesetzt, es würde jemals dazu kommen.
    Inzwischen hatten wir die Brücke hinter uns und fuhren die Henry Street hinunter, eine schmale, von roten Backsteinhäusern flankierte Durchgangsstraße, die von der Atlantic Avenue abzweigte und Brooklyn Heights mit unserem Haus in Cobble Hill verband. Es war nichts Persönliches, begriff ich. Graces kleiner Ausbruch hatte sich nicht gegen mich gerichtet, sondern gegen das, was ich gesagt hatte – ein Funke, erzeugt vom zufälligen Zusammentreffen meiner Bemerkungen mit ihren eigenen Gedankengängen.
Gute Menschen tun schlechte Dinge.
Hatte Grace etwas Unrechtes getan? Hatte jemand, der ihr nahe stand, etwas Unrechtes getan? Man konnte es nicht wissen, aber jemand hatte hier Schuldgefühle, das stand fest, und auch wenn Grace durch meine Worte zu ihren abwehrenden Bemerkungen veranlasst worden

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