Nacht des Orakels
Furcht, es könnte sie abschrecken, hatte ich nie gewagt, es auszusprechen. Und jetzt machte Grace mir einen Heiratsantrag. Ich hatte mich damit abgefunden, den Rest meines Lebens mit gebrochenem Herzen hinzubringen, und jetzt erklärte sie, ich könne mein Leben mit
ihr
hinbringen – unzerbrochen, mein ganzes Leben mit ihr.
Bowen sitzt im Flugzeug, das ihn durch die Nacht nachKansas City bringt. Nach dem Drama mit dem herabstürzenden Wasserspeier und der hektischen Fahrt zum Flughafen erfasst ihn jetzt Ruhe, eine heitere Leere breitet sich in ihm aus. Bowen stellt sein Tun nicht in Frage. Er empfindet keinerlei Bedauern über seinen Entschluss, der Stadt den Rücken zu kehren und seine Arbeit aufzugeben, hat nicht die leisesten Gewissensbisse, Eva einfach so im Stich zu lassen. Er weiß, wie sehr sie das treffen wird, aber er redet sich erfolgreich ein, dass es ihr ohne ihn letztlich besser gehen wird, dass sie, wenn sie sich erst einmal vom Schock seines Verschwindens erholt hat, in der Lage sein wird, ihr Leben noch einmal und für sie befriedigender von vorne anzufangen. Nicht gerade eine bewundernswerte oder sympathische Haltung, aber Bowen steht im Bann einer Idee, und diese Idee ist so groß, so viel größer als seine armseligen Bedürfnisse und Pflichten, dass er keine andere Wahl zu haben glaubt, als ihr zu gehorchen – selbst wenn das heißt, unverantwortlich zu handeln und Dinge zu tun, die ihm gestern noch moralisch verwerflich erschienen wären. «Menschen sterben durch Zufälle», formuliert Hammett diese Idee, «und leben nur, solange der blinde Zufall sie verschont … Bis jetzt hatte [Flitcraft] seine Angelegenheiten rational geregelt, sich dabei aber nicht im Einklang, sondern im Missklangmit dem Leben befunden. Er hatte den herabgestürzten Balken noch keine sieben Schritte hinter sich, da wusste er schon, dass er keinen Frieden mehr finden würde, solange er diesem neuen Aspekt nicht Rechnung trug. Als er mit dem Lunch fertig war, wusste er, was er zu tun hatte. Sein Leben konnte zufällig durch einen herabstürzenden Balken enden: genauso zufällig würde er sein Leben ändern, indem er einfach davonging.»
Ich musste Bowens Handlungsweise nicht gutheißen, um darüber zu schreiben. Bowen war Flitcraft, und Flitcraft hatte seiner Frau in Hammetts Roman genau dasselbe angetan. Das war der Ausgangspunkt der Geschichte, und ich dachte gar nicht daran, mich vor der Abmachung zu drücken, die ich mit mir selbst getroffen hatte, mich an den Ausgangspunkt der Geschichte zu halten. Gleichzeitig war mir klar, dass an der Geschichte mehr war als nur Bowen und das, was er erlebt, nachdem er das Flugzeug bestiegen hat. Auch an Eva war zu denken, und so sehr es mich in Anspruch nehmen würde, Nicks Abenteuer in Kansas City zu verfolgen, konnte ich der Geschichte nur gerecht werden, wenn ich nach New York zurückkehrte, um herauszufinden, wie es mit Eva weiterging. Ihr Schicksal war mir genauso wichtig wie das ihres Mannes. Bowen ist auf der Suche nach Gleichgültigkeit, nach gelassener Bestätigung der Dinge, wie sie nun einmal sind, wohingegen Eva mit diesen Dingen auf Kriegsfuß steht; sie ist ein Opfer der Umstände, und als Nick von seinem Gang um die Ecke nicht nach Hause kommt, erhebt sich in ihrem Kopf ein Sturm widersprüchlicher Gefühle: Panik und Angst, Trauer und Wut, Verzweiflung. Ich genoss die Aussicht, mich auf dieses Elend einzulassen, und freute mich auf die kommenden Tage, indenen ich mit ihr zusammen diese Leidenschaften durchleben und darüber schreiben konnte.
Eine halbe Stunde nach dem Start in LaGuardia öffnet Nick seine Aktentasche, nimmt das Manuskript von Sylvia Maxwells Roman heraus und beginnt zu lesen. Dies war das dritte Element der Erzählung, das in meinem Kopf Gestalt annahm, und ich fand, es müsse so früh wie möglich eingeführt werden – noch bevor das Flugzeug in Kansas City landet. Zuerst Nicks Geschichte; dann Evas Geschichte; und schließlich das Buch, das Nick liest und parallel zur Entwicklung ihrer beider Geschichten weiterliest: die Geschichte innerhalb der Geschichte. Immerhin ist Nick Literat, also jemand, der für die Macht der Bücher empfänglich ist. Dank der Aufmerksamkeit, die er Sylvia Maxwells Worten widmet, erkennt er nach und nach einen Zusammenhang zwischen sich selbst und der Fabel des Romans, als habe das Buch ihm persönlich, indirekt und höchst metaphorisch, etwas über seine gegenwärtigen Umstände mitzuteilen.
In dem Stadium
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