Nacht des Orakels
bewunderte, noch mehr interessierte mich ihr Titel, und ich hatte ihn nicht verwendet, um auf de Kooning anzuspielen, sondern wegen des puren Wortlauts, den ich sehr beziehungsreich fand und der genau zu dem Roman zu passen schien, den ich geschrieben hatte. Am Anfang jener Woche in Betty Stolowitz’ Büro hatte ich vorgeschlagen, de Koonings Zeichnung für den Umschlag zu verwenden. Jetzt wollte ich Grace sagen, die Idee käme mir gar nicht mehr so gut vor – die Bleistiftstriche seien zu schwach und unauffällig, die Gesamtwirkung werde dadurch beeinträchtigt. Im Grunde war mir das aber nicht so wichtig. Hätte ich mich in Bettys Büro gegen die Zeichnung ausgesprochen, wäre ich jetzt dafür gewesen. Mir ging es nur um eine Chance, Grace wieder zu sehen – und dazu sollte mir die Kunst verhelfen, das Einzige, was meine wahren Absichten nicht bloßstellte.
Ihre Bereitschaft, mich nach der Arbeit im Büro zu empfangen, machte mir Hoffnung; aber die Mitteilung, dass sie für acht Uhr verabredet sei, zerstörte diese Hoffnung sogleich wieder. Es gab kaum einen Zweifel daran, dass sie mit einem Mann verabredet war (attraktive Frauen sind freitagabends immer mit einem Mann unterwegs), aber ich konnte überhaupt nicht einschätzen, wie sehr sie mit ihm verbunden war. Es konnte ein erstes Stelldichein sein, es konnte aber auch ein geruhsames Abendessen mit ihrem Verlobten oder Partner, mit dem sie zusammenwohnte, sein. Dass sie nicht verheiratet war, wusste ich (Betty hatte es mir gesagt, als Grace nach unserer ersten Begegnung ihr Büro verlassen hatte), aber die Möglichkeiten anderer Beziehungen waren grenzenlos. Als ich Betty fragte, ob Grace einen Freund habe, sagte sie, das wisse sie nicht. Grace behalte ihr Privatleben für sich, niemand in der Firma habe die leiseste Ahnung, was sie in ihrer Freizeit treibe. Zwei oder drei Lektoren hätten sie, seit sie dort arbeite, zum Essen eingeladen, aber sie habe sie alle abblitzen lassen.
Ich kam schnell dahinter, dass Grace niemanden zu ihrem Vertrauten machte. In den zehn Monaten, die ich sie vor unserer Hochzeit kannte, hatte sie mir kein einziges Geheimnis verraten und keinerlei Hinweise auf irgendwelche früheren Beziehungen zu Männern gegeben. Und ich hatte sie nie gebeten, mir Dinge zu erzählen, über die sie offenbar nicht sprechen wollte. Eine solche Macht übte Graces Schweigen aus. Wenn man sie so lieben wollte, wie sie geliebt zu werden verlangte, musste man die Grenze akzeptieren, die sie zwischen sich und dem Wort gezogen hatte.
(Einmal, bei einem frühen Gespräch über ihre Kindheit, erwähnte sie eine Lieblingspuppe, die sie als Siebenjährige von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Sie nannte sie Pearl, trug sie die nächsten vier oder fünf Jahre überall mit sich herum und betrachtete sie als ihre beste Freundin. Das Bemerkenswerte an Pearl war, dass sie sprechen und alles verstehen konnte, was man ihr sagte. Nur dass Pearl nie in Graces Gegenwart sprach. Nicht weil sie nicht sprechen konnte, sondern weil sie nicht wollte.)
Als ich sie kennen lernte, gab es jemanden in ihrem Leben – da bin ich mir sicher –, aber ich habe nie erfahren, wie er hieß oder wie ernst es ihr mit ihm war. Ziemlich ernst, möchte ich meinen, denn die ersten sechs Monate wurden eine stürmische Zeit für mich und nahmen ein böses Ende, als Grace mir sagte, sie wolle mich nicht mehr sehen, und ich solle sie nicht mehr anrufen. Jedoch, bei allen Enttäuschungen in diesen Monaten, allen flüchtigen Siegen und winzigen Anwandlungen von Optimismus, bei allen Zurückweisungen und Kapitulationen, den Abenden, an denen sie zu beschäftigt war, mich zu sehen, und den Abenden, an denen sie mich in ihr Bett ließ, bei all dem Auf und Ab meines verzweifelten, gescheiterten Werbens war Grace für mich immer ein Zauberwesen, ein leuchtender Berührungspunkt zwischen dem Verlangen und der Welt: die unerbittliche Liebe. Ich hielt Wort und rief sie nicht an, aber sechs oder sieben Wochen später rief sie mich aus heiterem Himmel an und sagte, sie habe es sich anders überlegt. Sie brachte keine Erklärung vor, aber ich vermutete, dass der Mann, der mein Rivale gewesen war, jetzt keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Sie wolle mich nicht nur wieder sehen, sagte sie, nein, sie wolle mich heiraten.
Heiraten
war das eine Wort, das ich in ihrer Gegenwart nie ausgesprochen hatte. Es war mir, seit ich sie das erste Mal gesehen hat, nicht mehr aus dem Kopf gegangen, aber aus
Weitere Kostenlose Bücher