Nacht des Orakels
Brooklyn. Abgemacht?»
Der Nachmittag entwickelte sich von Minute zu Minute seltsamer, aber ich ließ mich von ihm überreden, ihn zu begleiten. Warum, kann ich nicht erklären. Aus Neugier, vielleicht, es könnte aber auch das Gegenteil gewesen sein – absolute Gleichgültigkeit. Chang ging mir allmählichauf die Nerven, und ich konnte seine ewigen Beteuerungen nicht mehr ertragen, schon gar nicht, solange ich in diesem lächerlichen Wagen eingepfercht war. Wenn eine weitere halbe Stunde meiner Zeit ihn zufrieden stellen würde, schien es mir das wert, ihm den Gefallen zu tun. Also kletterte ich aus dem Pontiac und folgte ihm durch das dichte Gewühl, umweht von den stechenden Dämpfen und beißenden Gerüchen der Fischgeschäfte und Gemüsestände am Straßenrand. An der ersten Ecke wandten wir uns nach links, hundert Meter weiter ging es noch einmal nach links in eine schmale Gasse hinein, an deren Ende ein kleines Betongebäude stand, ein winziges eingeschossiges, fensterloses Haus mit Flachdach. Es war die klassische Szenerie für einen Raubüberfall, aber ich fühlte mich nicht im Geringsten bedroht. Chang war in viel zu aufgeräumter Stimmung und schien mit gewohnter Zielstrebigkeit wild entschlossen, unser Ziel zu erreichen.
Als wir vor dem gelb gestrichenen Betonbau ankamen, drückte Chang auf die Türklingel. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und ein Chinese in den Sechzigern schob seinen Kopf hindurch. Er nickte, als er Chang sah, sie tauschten ein paar Sätze auf Mandarin aus, und dann ließ er uns ein. Der angebliche Entspannungsclub erwies sich als eine kleine Fabrik. Zwanzig Chinesinnen saßen an Tischen und nähten mit Maschinen bunte Kleider aus billigen Synthetikstoffen zusammen. Nicht eine von ihnen blickte zu uns auf, als wir eintraten, und Chang huschte, so schnell er konnte, an ihnen vorbei, als seien sie gar nicht da. Wir gingen weiter, schoben uns um die Tische, bis wir zu einer Tür am hinteren Ende des Raums gelangten. Der alte Mannmachte sie uns auf, und Chang und ich traten in einen Raum, der so finster war, so schwarz im Vergleich zu der von Neonlicht erhellten Werkstatt hinter uns, dass ich zunächst einmal gar nichts sah.
Als meine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass in dem Raum ein paar schwache Lampen verteilt waren. Jede mit einer Glühbirne in einer anderen Farbe – rot, gelb, violett, blau –, und ich musste kurz an die portugiesischen Notizbücher in Changs bankrottem Laden denken. Ich fragte mich, ob die, die ich am Samstag gesehen hatte, noch zu haben waren, und, falls ja, ob er sie mir verkaufen würde. Ich nahm mir vor, ihn danach zu fragen, bevor wir gingen.
Er führte mich zu einem hohen Stuhl oder Hocker, einem mit Leder oder Kunstleder bezogenen Sitzmöbel, das am Fuß drehbar und angenehm weich gepolstert war. Ich nahm Platz, und er setzte sich neben mich, und nun bemerkte ich, dass wir an einer Theke saßen – einer lackierten Theke, deren Oval die Mitte des Raums ausfüllte. Allmählich sah ich deutlicher. Ich erkannte uns gegenüber mehrere Leute, zwei Männer mit Anzug und Krawatte, einen Asiaten, der so etwas wie ein Hawaiihemd trug, und zwei oder drei Frauen, von denen keine mit irgendetwas bekleidet schien. Aha, sagte ich mir, so ist das also. Ich bin in einem Sexclub gelandet. Seltsamerweise nahm ich erst jetzt die Musik im Hintergrund wahr – ein ruhig wogendes Stück, das aus unsichtbaren Lautsprechern hereinwehte. Ich spitzte die Ohren, um den Song zu identifizieren, aber es war nichts zu machen. Die weich gespülte Version irgendeiner alten Rock’n’Roll-Nummer – vielleicht von den Beatles, dachte ich, oder auch nicht.
«Nun, Mr. Sid», sagte Chang, «was meinen Sie?»
Bevor ich ihm antworten konnte, tauchte vor uns ein Barkeeper auf und fragte, was wir trinken wollten. Womöglich war das der Alte, der uns zuvor die Tür geöffnet hatte, aber ich war mir nicht sicher. Es hätte auch sein Bruder sein können, oder vielleicht ein anderer Verwandter, der an dem Betrieb beteiligt war. Chang beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: «Kein Alkohol», sagte er. «Falschbier, 7-Up , Cola. Zu riskant, in so ein Lokal Schnaps verkaufen. Keine Konzession.» Nachdem ich über die Auswahl informiert war, entschied ich mich für eine Cola. Chang ebenfalls.
«Ganz neues Lokal», fuhr der ehemalige Schreibwarenhändler fort. «Erst Samstag eröffnet. Noch nicht alles fertig, aber
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