Nacht des Orakels
sagte er, «angestellt bei Pekinger Mittelschule Nummer elf. Dann die Kulturrevolution kommt, und plötzlich sagt man, er Mitglied von Schwarzer Bande, reaktionärer Bourgeois. Eines Tages befehlen Schüler von Roter Garde der Schwarzen Bande, alle Bücher aus Bücherei entfernen, die nicht geschrieben von Vorsitzender Mao. Sie schlagen mit Gürteln, damit sie das tun. Das schlechte Bücher, sagen sie. Verbreiten Kapitalismus und revisionistische Ideen, müssen verbrannt werden. Mein Vater und die anderen Lehrer von Schwarzer Bande tragen Bücher auf Sportplatz. Die Roten Garden schreien sie an und schlagen sie, damit sie das tun. Sie tragen eine Ladung nach der anderen, und dann sie haben großen Berg Bücher. Die Roten Garden stecken sie in Brand, und mein Vater muss weinen. Sie schlagen mit Gürteln, weil er das tut. Dann das Feuer wird groß und heiß, und die Roten Garden stoßen die Schwarze Bande dicht bis an Rand von Feuer. Da müssen sie Kopf senken und sich vorbeugen. Rote Garden sagen, sie werden geprüft von Flammen der Kulturrevolution. Es ist ein heißer Tag im August, Sonne schrecklich heiß. Mein Vater hat Blasen auf Gesicht und Armen, und ganzerRücken wund von Schlägen. Zu Hause weint meine Mutter, als sie ihn sieht. Mein Vater weint. Wir alle weinen, Mr. Sidney. Nächste Woche mein Vater wird verhaftet, und wir alle auf Land geschickt und müssen als Bauern arbeiten. Da habe ich mein Land gehasst, mein China. Seit dem Tag träume ich von Amerika. Mein großer amerikanischer Traum, den habe ich aus China, aber es gibt keinen Traum in Amerika. Dieses Land ist auch schlecht. Überall dasselbe. Alle Leute schlecht und verdorben. Alle Länder schlecht und verdorben.» 11
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Als Chang mir vor zwanzig Jahren diese Geschichte erzählte, glaubte ich ihm jedes Wort. Er sprach so überzeugend, dass ich an seiner Aufrichtigkeit nicht zweifeln konnte. Vor einigen Monaten jedoch las ich, zur Vorbereitung auf ein anderes Projekt, eine Reihe von Büchern über China zur Zeit der Kulturrevolution. Und in einem davon stieß ich auf einen Bericht über jene Bücherverbrennung, erzählt von Liu Yan, der als Schüler an der Pekinger Mittelschule Nummer elf Augenzeuge dieses Vorfalls geworden war. Ein Lehrer namens Chang wird nicht erwähnt. Allerdings heißt es von einer Lehrerin namens Yu Changjiang, sie sei beim Anblick der brennenden Bücher weinend zusammengebrochen. «Ihre Tränen provozierten die Roten Garden, ihr einige Peitschenhiebe zusätzlich zu geben, und die Gürtel hinterließen schlimme Narben auf ihrer Haut.» . (China’s
Cultural Revolution, 1966 – 1969,
herausgegeben von Michael Schoenhals; Armonk, New York: M. E. Sharp, 1996)
Ich behaupte nicht, damit sei bewiesen, dass Chang mich belogen hat; aber es lässt doch Zweifel an seiner Geschichte aufkommen. Möglicherweise haben bei jener Gelegenheit zwei Lehrer geweint, und Liu Yan hat es nur in dem einen Fall wahrgenommen. Zu beachten ist freilich, dass damals in Peking ausführlich über die Bücherverbrennung berichtet wurde; Liu Yan zufolge hat das Ereignis «in der ganzen Stadt für beträchtliches Aufsehen gesorgt». Chang hätte also davon erfahren, auch wenn sein Vater gar nicht dabei gewesen wäre. Vielleicht hat er die furchtbare Geschichte erzählt, um mich zu beeindrucken. Ich weiß es nicht. Andererseits war seine Version außerordentlich lebendig – lebendiger als die meisten Berichte aus zweiter Hand –, und das bringt mich auf die Frage, ob Chang womöglich selbst bei der Bücherverbrennung dabei gewesen war. Und falls ja, kann das nur bedeuten, dass er als Mitglied der Roten Garde daran teilgenommen hat. Denn sonst hätte er mir erzählt, dass er Schüler an dieser Schule war – aber das hat er nicht getan. Es ist sogar möglich (wenn auch reine Spekulation), dass er selbst es war, der die weinende Lehrerin ausgepeitscht hat.
Als ich meinen zweiten Cutty Sark ausgetrunken hatte, gab ich Chang die Hand und sagte, ich müsse jetzt gehen.Es sei halb drei, sagte ich, ich müsse nach Cobble Hill zurück und noch einiges fürs Abendessen einkaufen. Chang wirkte enttäuscht. Keine Ahnung, was er von mir erwartete, aber vielleicht hatte er gehofft, ich würde ihn auf einer ganztägigen Sauftour begleiten.
«Kein Problem», sagte er schließlich. «Ich fahre Sie nach Hause.»
«Sie haben ein Auto?»
«Natürlich. Jeder hat ein Auto. Sie nicht?»
«Nein. In New York braucht man eigentlich keins.»
«Ah, Mr.
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