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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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gerade darum, dass er nicht fliehen kann. Ich hatte ihm etwas Licht spendiert, aber er war immer noch in dieser grausigen Kammer eingeschlossen, und ohne geeignetes Werkzeug, sich einen Weg ins Freie zu graben, würde er schließlich da unten sterben müssen.
    Früher war ich oft im White Horse gewesen, nun aberseit einigen Jahren nicht mehr; zu meiner Freude sah ich, sobald ich die Tür aufstieß, dass sich dort nichts verändert hatte. Es war dieselbe verräucherte, holzgetäfelte Kneipe wie eh und je, dieselben verschrammten Tische und wackligen Stühle, dasselbe Sägemehl auf dem Fußboden,dieselbe große Uhr an der Nordwand. Alle Tische waren besetzt, aber an der Theke waren noch ein paar Plätze frei. Ich schob mich auf einen Hocker und bestellte einen Hamburger und ein Glas Bier. Tagsüber trank ich nur selten, aber das White Horse hatte mich in nostalgische Stimmung versetzt (in Erinnerung an die unzähligen Stunden, die ich als junger Mann dort verbracht hatte), und plötzlich war mir danach, eins auf die alten Zeiten zu trinken. Erst als ich mit dem Barkeeper gesprochen hatte, sah ich mir den Mann an, der rechts neben mir saß. Ich hatte ihn, als ich in die Kneipe trat, nur von hinten gesehen, einen dünnen Mann, der in seinem braunen Pullover über einem Drink kauerte, und etwas an seiner Haltung hatte es in meinem Kopf leise klingeln lassen. Noch ahnte ich nicht, warum. Vielleicht hatte ich ihn schon mal gesehen. Oder noch unbedeutender: vielleicht erinnerte er mich an einen anderen Mann in einem braunen Pullover, der hier vor Jahren einmal in derselben Haltung gesessen hatte, ein winziges Fragment aus uralten Zeiten. Dieser Mann hielt den Kopf gesenkt und starrte in sein Glas, das halb mit Scotch oder Bourbon gefüllt war. Ich konnte nur sein Profil sehen, teilweise verdeckt von seiner linken Hand, aber kein Zweifel, dieses Gesicht gehörte einem Menschen, von dem ich nicht gedacht hätte, dass ich ihn je wieder sehen würde. M.   R.   Chang.
    «Mr.   Chang», sagte ich. «Wie geht es Ihnen?»
    Als Chang seinen Namen hörte, drehte er sich um; er wirkte niedergeschlagen und vielleicht ein wenig betrunken. Erst schien er sich nicht an mich zu erinnern, dann aber leuchtete seine Miene langsam auf. «Ah», sagte er. «Mr.   Sidney. Mr.   Sidney O.   Netter Mann.»
    «Ich wollte gestern wieder Ihr Geschäft aufsuchen», sagte ich, «aber da war alles weg. Was ist passiert?»
    «Große Probleme», antwortete Chang; er nahm kopfschüttelnd einen Schluck und schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. «Hausbesitzer erhöht meine Miete. Ich sag ihm, ich hab Vertrag, aber er lacht und sagt, er beschlagnahmt meine Waren mit Polizeichef, wenn Geld nicht am Montagmorgen in seiner Faust. Also pack ich am Samstagabend meinen Laden ein und geh. Alles Mafia in der Gegend da. Die erschießen einen, wenn man nicht mitmacht.»
    «Sie sollten sich einen Anwalt nehmen und mit der Sache vor Gericht gehen.»
    «Kein Anwalt. Zu viel Kosten. Morgen such ich neuen Laden. Vielleicht in Queens oder Manhattan. Brooklyn nicht mehr. Paper Palace ein Reinfall. Große amerikanische Traum ein Reinfall.»
    Ich hätte der Anwandlung von Mitleid nicht nachgeben sollen, aber als Chang mir einen Drink spendieren wollte, brachte ich es nicht übers Herz, ihm einen Korb zu geben. Die Einnahme von Scotch, mittags um halb zwei, gehörte nicht zu dem, was mir der Arzt verschrieben hatte. Schlimmer noch, jetzt, da Chang und ich Freunde geworden und miteinander ins Gespräch gekommen waren, sah ich mich gezwungen, ihm meinerseits einen auszugeben und die nächste Runde zu bestellen. Das machte innerhalb einer Stunde ein Bier und zwei doppelte Scotch. Das reichte noch nicht für einen Vollrausch, aber ich schwamm doch bereits ganz angenehm; dies wiederum ließ meine sonst übliche Zurückhaltung immer weiter schwinden, und schließlich stellte ich Chang eine Reihe persönlicher Fragen zu seinem Lebenin China und wie er nach Amerika gekommen sei – was ich ohne die Drinks niemals getan hätte. Viele seiner Antworten verwirrten mich nur. Seine Fähigkeit, sich auf Englisch auszudrücken, nahm mit der aufgenommenen Alkoholmenge allmählich ab, aber aus der Flut von Geschichten über seine Kindheit in Peking, die Kulturrevolution und seine riskante Flucht, die ihn über Hongkong aus dem Land geführt hatte, trat eine ganz besonders hervor, zweifellos weil er sie ziemlich zu Anfang unseres Gesprächs erzählte.
    «Mein Vater war Mathelehrer»,

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