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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Sid. Sie heitern mich auf und machen mich wieder glücklich. Jetzt ich fahre Sie nach Hause.»
    «Nein, vielen Dank. In Ihrem Zustand sollte man nicht fahren. Sie haben zu viel intus.»
    «Intus?»
    «Sie haben zu viel getrunken.»
    «Unsinn. M.   R.   Chang ist nüchtern wie ein Richter.»
    Ich lächelte, als ich diesen alten amerikanischen Ausdruck hörte, und als er meine Belustigung bemerkte, brach Chang plötzlich in Lachen aus. Wieder so eine abgehackte Salve, wie ich sie am Samstag in seinem Laden gehört hatte.
Hahaha. Hahaha. Hahaha.
Ich fand diese Art von Heiterkeit beunruhigend, irgendwie trocken und unbeseelt, es fehlte ihr an dem hellen, beschwingten Klang, den man gewöhnlich im Lachen eines Menschen wahrnimmt. Um seine Behauptung unter Beweis zu stellen, hüpfte Chang vom Barhocker und schritt mehrmals in der Kneipe auf und ab, womit er zeigen wollte, dass er noch das Gleichgewicht halten und eine gerade Linie gehen konnte. Gerechterweise musste ich zugeben, dass er den Test bestanden hatte. Seine Bewegungen waren gleichmäßig und ungezwungen, er schien seinen Körper vollständig zu beherrschen. Ich begriff, der Mann war nicht aufzuhalten, seine Entschlossenheit, mich nach Hause zu fahren, war ihm zu einem leidenschaftlichen, aufrichtigen Anliegen geworden, und so fügte ich mich widerwillig und nahm sein Angebot an.
    Das Auto stand um die Ecke in der Perry Street, ein nagelneuer roter Pontiac mit Weißwandreifen und Schiebedach. Ich sagte Chang, ich fände, der Wagen sehe aus wie eine frische Jersey-Tomate, fragte aber nicht, wie ein angeblicher amerikanischer Reinfall sich einen so kostspieligen Schlitten leisten konnte. Mit offensichtlichem Stolz öffnete er als Erstes die Beifahrertür undließ mich einsteigen. Dann ging er, die Motorhaube tätschelnd, vorne um den Wagen herum, trat auf den Bordstein und schloss die andere Tür auf. Als er hinterm Steuer saß, wandte er sich mir grinsend zu. «Solides Fabrikat», sagte er.
    «Ja», antwortete ich. «Sehr beeindruckend.»
    «Machen sich bequem, Mr.   Sid. Liegesitze. Kippen Sie ihn ganz nach hinten.» Er beugte sich rüber und zeigte mir, welchen Knopf ich drücken musste, und tatsächlich, die Lehne senkte sich nach hinten und kam bei einem Winkel von fünfundvierzig Grad zum Stillstand. «So», sagte Chang. «Immer besser, gemütlich fahren.»
    Da konnte ich ihm nicht widersprechen, und überhaupt war es mir in meinem leicht beschwipsten Zustand angenehm, mich nicht in senkrechter Haltung zu befinden. Chang ließ den Motor an, und ich schloss kurz die Augen und versuchte mir vorzustellen, was ich für Grace zum Abendessen machen sollte und was ich dafür einkaufen musste, wenn ich wieder in Brooklyn wäre. Das erwies sich als Fehler. Statt die Augen wieder aufzumachen und zu sehen, wo Chang mich hinfuhr, schlief ich einfach ein – wie jeder, der am helllichten Tag einen über den Durst getrunken hat.
    Ich wachte erst auf, als das Auto hielt und Chang den Motor abstellte. In der Annahme, wir seien wieder in Cobble Hill, wollte ich ihm schon fürs Mitnehmen danken und die Tür aufmachen, als ich erkannte, dass ich irgendwo anders war: eine bevölkerte Einkaufsstraße in einer mir unbekannten Gegend, mit Sicherheit weit weg von meinem Wohnort. Ich richtete mich auf, um besser sehen zu können, und erblickte fast nur chinesische Ladenschilder.
    «Wo sind wir?», fragte ich.
    «Flushing», sagte Chang. «Chinatown Nummer zwei.»
    «Warum haben Sie mich hierher gebracht?»
    «Beim Fahren hatte ich bessere Idee. Netter kleiner Club im nächsten Block, gut zum Entspannen. Sie sehen müde aus, Mr.   Sid. Ich bring Sie hin, da geht’s Ihnen besser.»
    «Was reden Sie da? Es ist viertel nach drei, und ich muss nach Hause.»
    «Nur eine halbe Stunde. Wird Ihnen sehr gut tun, bestimmt. Dann ich fahre Sie nach Hause. Okay?»
    «Lieber nicht. Sagen Sie mir nur, wo hier die nächste Subway ist, dann fahre ich nach Hause.»
    «Bitte. Das ist sehr wichtig für mich. Vielleicht eine geschäftliche Gelegenheit, und ich brauche Rat von klugen Mann. Sie sehr klug, Mr.   Sid. Ich kann Ihnen vertrauen.»
    «Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Erst soll ich mich entspannen. Jetzt soll ich Ihnen einen Rat geben. Was denn nun?»
    «Beides. Alles auf einmal. Sie sehen Laden an, Sie entspannen, und dann Sie sagen, was Sie denken. Ganz einfach.»
    «Eine halbe Stunde?»
    «Keine große Sache. Alles geht auf mich, alles gratis. Dann ich fahre Sie nach Cobble Hill,

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