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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sagte er. «Dauernd treffen wir uns zu Sitzungen und reden über uns selbst. Was für ein langweiliger Scheiß! Als ob ich die blöden Geschichten dieser Versager von ihrer beschissenen Kindheit hören will, und wie sie vom geraden Weg abgekommen und dem Teufel in die Hände gefallen sind.»
    «Was tust du, wenn du an die Reihe kommst? Stehst du auf und erzählst was?»
    «Das muss ich. Wenn ich nichts sage, zeigen sie mit den Fingern auf mich und nennen mich einen Feigling. Also erfinde ich irgendwas, was sich so anhört wie das Zeug, das alle anderen erzählen, und breche dann in Tränen aus. Ich bin ein ziemlich guter Schauspieler. Ich bin der letzte Dreck, sage ich, und dann breche ich zusammen und kann nicht mehr weiter, und alle sind zufrieden.»
    «Warum machst du ihnen was vor? Das ist doch reine Zeitverschwendung.»
    «Weil ich nicht süchtig bin, darum. Ich habe ein bisschen mit dem Stoff herumgespielt, aber das Zeug hat für mich keine Bedeutung. Ich bin nicht darauf angewiesen.»
    «Das hat mein Mitbewohner im College auch immer gesagt. Und dann ist er eines Nachts an einer Überdosis gestorben.»
    «Na, der scheint ja reichlich blöd gewesen zu sein. Ich weiß, was ich tue, ich werde nicht an einer Überdosis sterben. Ich bin nicht süchtig nach dem Zeug. Meine Mutter glaubt das zwar, aber die hat von nichts ’ne Ahnung.»
    «Und warum bist du dann hier reingegangen?»
    «Weil sie gesagt hat, sie dreht mir den Hahn ab, wenn ich das nicht mache. Deinen Freund, den allmächtigen Sir John, habe ich schon vergrätzt, und ich hab keineLust, dass Lady Eleanor auf die dumme Idee kommt, mir mein Taschengeld zu sperren.»
    «Du könntest dir doch einen Job besorgen.»
    «Ja, könnte ich, will ich aber nicht. Ich hab andere Pläne, und ich brauch noch ein bisschen Zeit, die auszuarbeiten.»
    «Und da sitzt du einfach hier rum und wartest, dass die achtundzwanzig Tage vorübergehen.»
    «Das wäre gar nicht so blöd, wenn die uns nicht die ganze Zeit auf Trab halten würden. Wenn wir uns nicht bei diesen verdammten Sitzungen blicken lassen, drücken sie uns diese grässlichen Bücher aufs Auge. So einen Mist hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gelesen.»
    «Was sind das für Bücher?»
    «Das Handbuch der Anonymen Alkoholiker, das Zwölf-Stufen-Programm und dieser ganze Scheiß.»
    «Das mag ja Scheiß sein, aber immerhin hat es sehr vielen Leuten geholfen.»
    «Das ist doch bloß was für Idioten, Sid. Dieser ganze Mist von wegen Vertrauen auf den Allmächtigen. Religion in Babysprache. Gebt euch dem Allmächtigen hin, und ihr werdet erlöst. Man muss schon schwachsinnig sein, um diesen Quatsch zu schlucken. Es gibt keinen Allmächtigen. Sieh dir die Welt an und sag mir, wo er ist. Ich sehe ihn nicht. Ich sehe nur dich und mich und alle anderen. Einen Haufen erbärmlicher Wichte, die sich irgendwie durchs Leben schlagen.»
    Wir saßen erst wenige Minuten zusammen, und schon war ich vollkommen erschöpft und ausgelaugt von Jacobs seichtem, zynischem Gerede. Ich wollte bloß noch weg, und zwar so schnell wie möglich, und nur aus Höflichkeitbeschloss ich, noch bis zum Ende der Mahlzeit zu warten. Trauses bleicher und abgemagerter Sohn hatte offenbar keinen großen Appetit auf die Klinikküche. Er stocherte eine Weile in seinem Kartoffelpüree herum, probierte einen Bissen von dem Hackbraten und legte die Gabel weg. Dann erhob er sich von seinem Stuhl und fragte, ob ich Nachtisch wolle. Ich schüttelte den Kopf, und er ging noch einmal zur Essensausgabe. Kurz darauf kam er mit zwei Bechern Schokoladenpudding zurück, die er vor sich hinstellte und einen nach dem anderen auslöffelte; Süßes sagte ihm eindeutig mehr zu als der Hauptgang. Zucker war der einzige verfügbare Drogenersatz in diesem Haus, und er verschlang den Pudding mit dem Behagen eines Kleinkinds und kratzte die Becher sorgfältig aus. Irgendwann zwischen der ersten und zweiten Portion kam ein Mann an den Tisch und grüßte ihn. Er mochte Mitte dreißig sein, hatte ein grobes, pockennarbiges Gesicht und trug die Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Jacob stellte ihn mir als Freddy vor, und mit dem Eifer und Ernst eines alten Entzugsveteranen reichte mir Freddy die Hand und sagte, es sei ihm ein Vergnügen, einen Freund von Jacob kennen zu lernen.
    «Sid ist ein berühmter Schriftsteller», erklärte Jacob aus dem Nichts heraus. «Er hat ungefähr fünfzig Bücher geschrieben.»
    «Hören Sie nicht auf ihn», sagte ich zu Freddy. «Er

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