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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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vermeiden, dass wir in schmerzliche Angelegenheiten aus der Vergangenheit hineingezogen wurden.
    Die Entzugsklinik Smithers war in einer großen Villa untergebracht, die früher dem Broadway-Produzenten Billy Rose gehört hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie undwann das Haus für den neuen Zweck eingerichtet worden war, aber jedenfalls war es ein erstklassiges Beispiel für die alte New Yorker Architektur, ein Kalksteinpalast aus einer Zeit, als der Reichtum sich mit Diamanten, Zylinderhüten und weißen Handschuhen in Szene gesetzt hatte. Sehr seltsam, dass dort heute nun die Gestrandeten der Gesellschaft leben sollten, ein unaufhörlicher Strom von Drogensüchtigen, Alkoholikern und ehemaligen Kriminellen. Das Anwesen war zu einer Zwischenstation für die Verlorenen geworden, und als die Tür aufsprang und ich eintrat, bemerkte ich, dass bereits eine gewisse Verwahrlosung eingesetzt hatte. Das Skelett des Gebäudes war noch intakt (die riesige Eingangshalle mit dem schwarzweiß gefliesten Fußboden, die geschwungene Treppe mit demMahagonigeländer), aber die Haut wirkte nur noch traurig und schmutzig, verschlissen von jahrelanger, härtester Beanspruchung.
    Ich stellte mich am Empfang als Freund der Familie vor und fragte nach Jacob. Anscheinend machte ich auf die Aufseherin einen verdächtigen Eindruck, denn ich musste meine Taschen ausleeren, um zu beweisen, dass ich weder Drogen noch Waffen ins Haus schmuggeln wollte. Den Test bestand ich zwar, rechnete aber trotzdem damit, dass sie mich fortschicken würde, doch ehe ich zu meiner Verteidigung ansetzen konnte, erschien plötzlich Jacob in der Eingangshalle: zusammen mit drei oder vier anderen Insassen war er auf dem Weg zum Mittagessen im Speisesaal. Er wirkte größer als damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber mit seiner schwarzen Kleidung, den grünen Haaren und dem ausgemergelten Körper hatte seine Erscheinung etwas Groteskes, er sah eher aus wie ein Clown, wie ein gespenstischer Punchinello, der gleich mit dem «Duke of Death» einen Tanz aufführen würde. Ich rief seinen Namen, und als er sich umdrehte und mich erkannte, schien er schockiert – nicht glücklich oder unglücklich, sondern schlicht schockiert. «Sid», murmelte er, «was machst du denn hier?» Er löste sich aus der Gruppe und bewegte sich langsam auf mich zu, was die Frau hinterm Empfang zu der überflüssigen Frage veranlasste: «Sie kennen diesen Mann?» «Klar», sagte Jacob. «Den kenne ich. Das ist ein Freund meines Vaters.» Diese Erklärung reichte, jetzt ließ sie mich rein. Sie schob mir ein Klemmbrett hin, und nachdem ich meinen Namen in Druckbuchstaben auf den Besucherbogen geschrieben hatte, begleitete ich Jacob durch einen langen Korridor zum Speisesaal.
    «Man hat mir nicht gesagt, dass du kommst», sagte er. «Nehme an, der Alte hat dich geschickt, wie?»
    «Nicht direkt. Ich war zufällig hier in der Gegend, und da dachte ich, ich schau mal vorbei, wie’s dir so geht.»
    Jacob gab nur durch ein Grunzen zu verstehen, wie wenig er mir glaubte. Es war eine durchsichtige Lüge, aber die hatte ich benutzt, um John aus der Debatte herauszuhalten; ich dachte, ich bekäme mehr aus Jacob heraus, wenn ich nicht von seiner Familie anfinge. Wir schwiegen ein wenig, und dann legte er mir unvermutet eine Hand auf die Schulter. «Ich hab gehört, du warst echt krank», sagte er.
    «Stimmt. Aber jetzt geht’s mir langsam besser.»
    «Die haben gedacht, du stirbst, oder?»
    «So hat man’s mir erzählt. Aber ich habe sie reingelegt und bin vor ungefähr vier Monaten wieder rausspaziert.»
    «Dann bist du also unsterblich, Sid. Du kratzt erst ab, wenn du hundertzehn bist oder so.»
    Der Speisesaal war ein großer, sonniger Raum mit Schiebetüren aus Glas, die in einen kleinen Garten führten, in den einige Insassen mit ihren Angehörigen zum Rauchen und Kaffeetrinken gegangen waren. Das Essen bekam man wie in einer Cafeteria, und nachdem Jacob und ich unsere Tabletts mit Hackbraten, Kartoffelpüree und Salat beladen hatten, sahen wir uns nach einem freien Tisch um. Es waren sicher fünfzig bis sechzig Leute anwesend, und wir mussten ein paar Minuten herumgehen, bis wir einen gefunden hatten. Die Verzögerung schien ihn zu ärgern wie eine persönliche Beleidigung. Als wir uns schließlich setzten und ich mich nach seinem Befinden erkundigte, ließ er, nervös mit dem linken Bein wippend, eine Litanei bitterer Beschwerden vom Stapel.
    «Der Laden hier bringt gar nichts»,

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