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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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um sich die Schuhe zu binden, oder um einen herabgefallenen Bleistift aufzuheben. Ich räusperte mich, und Sekunden später stand Chang vom Boden auf und legte die Hände auf die Theke, als verlöre er sonst das Gleichgewicht. Diesmal hatte er den braunen Pullover an, und seine Haare waren ungekämmt. Er sah noch dünner aus als früher, hatte tiefe Falten um den Mund und leicht blutunterlaufene Augen.
    «Gratuliere», sagte ich. «Der Paper Palace ist wieder auf den Beinen.»
    Chang starrte mich ausdruckslos an, entweder nicht fähig oder nicht willens, mich zu erkennen. «Entschuldigung», sagte er. «Ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.»
    «Aber natürlich. Ich bin Sidney Orr. Wir haben kürzlich einen ganzen Nachmittag miteinander verbracht.»
    «Sidney Orr ist kein Freund von mir. Ich habe gedacht, er ist guter Mensch, aber jetzt nicht mehr.»
    «Wovon reden Sie?»
    «Sie haben mich enttäuscht, Mr.   Sid. Haben mich in sehr peinliche Situation gebracht. Ich will Sie nicht mehr kennen. Freundschaft aus.»
    «Ich verstehe nicht. Was habe ich denn getan?»
    «Sie lassen mich in Kleiderfabrik zurück. Kann nicht mal Auf Wiedersehen sagen. Was ist das für ein Freund?»
    «Ich habe Sie überall gesucht. Ich bin in der ganzen Bar herumgegangen, und als ich Sie nicht gefunden habe, dachte ich, Sie wären in einem Séparée und wollten nichtgestört werden. Da bin ich gegangen. Es war schon spät, und ich musste nach Hause.»
    «Nach Hause zu Ihrer geliebten Frau. Gleich nach Blowjob von afrikanische Prinzessin. Ganz schön komisch, was, Mr.   Sid? Wenn Martine jetzt reinkommt, tun Sie’s wieder. Hier auf Fußboden von mein Geschäft. Sie machen’s ihr wie ein Hund und finden es wunderbar.»
    «Ich war betrunken. Sie war sehr schön, ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Aber das heißt nicht, dass ich es noch einmal tun würde.»
    «Sie nicht betrunken. Nur geiler Heuchler, wie alle Egoisten.»
    «Sie haben gesagt, niemand kann ihr widerstehen, und Sie hatten recht. Sie können stolz auf sich sein, Chang. Sie haben mich durchschaut und meine Schwäche erkannt.»
    «Weil ich wusste, dass Sie schlecht von mir denken. Ich sehe, was in Ihnen vorgeht.»
    «Ach? Und was habe ich an diesem Tag gedacht?»
    «Sie denken, Chang macht schmutzige Geschäfte. Böser Hurenmann ohne Herz. Mann, der nur von Geld träumt.»
    «Das stimmt nicht.»
    «Doch, Mr.   Sid, das stimmt. Das stimmt genau. Jetzt hören wir auf zu reden. Sie mir sehr wehgetan, und jetzt wir hören auf. Wenn Sie wollen, sehen Sie sich um. Als Kunde in mein Geschäft sind Sie willkommen, aber nicht mehr als Freund. Freundschaft tot. Freundschaft tot und vorbei. Alles aus.»
    Ich glaube, noch nie hatte mich jemand so gründlich beleidigt wie Chang an diesem Nachmittag. Ich hatte ihm großen Schmerz bereitet, unbeabsichtigt seine Würdeund sein persönliches Ehrgefühl verletzt, und als er mit diesen steifen, knappen Sätzen auf mich losging, musste er wohl tatsächlich glauben, ich habe es verdient, für meine Verbrechen in Stücke gehauen zu werden. Noch unangenehmer wurde die Attacke dadurch, dass die meisten seiner Anschuldigungen zutreffend waren. Ich hatte ihn in der Kleiderfabrik zurückgelassen, ohne mich zu verabschieden, ich hatte mich der afrikanischen Prinzessin widerstandslos hingegeben, und ich hatte, weil er in diesen Club investieren wollte, seine moralische Integrität in Zweifel gezogen. Zu meiner Verteidigung hatte ich wenig vorzubringen. Es hätte keinen Zweck gehabt, irgendetwas abzustreiten; meine Entgleisungen waren zwar relativ harmlos gewesen, aber die Nummer mit Martine hinter dem Vorhang machte mir doch ein so schlechtes Gewissen, dass ich nicht nochmal davon anfangen wollte. Ich hätte mich auf der Stelle von Chang verabschieden und den Laden verlassen sollen, aber das tat ich nicht. Die portugiesischen Notizbücher waren inzwischen zu einer fixen Idee geworden, und ich konnte nicht gehen, ohne zuvor nachzusehen, ob er noch welche vorrätig hatte. Mir war bewusst, wie unklug es war, an einem Ort zu verweilen, an dem ich nicht erwünscht war, aber ich konnte nicht anders. Ich musste es einfach wissen.
    Eins war noch da, ganz hinten im Laden, unten in einem Regal zwischen deutschen und kanadischen Notizbüchern. Es war das rote, zweifellos dasselbe, das ich am vorigen Samstag in Brooklyn gesehen hatte, auch der Preis war derselbe: glatte fünf Dollar. Als ich es zur Kasse brachte und Chang hinüberreichte, bat ich um

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