Nacht des Orakels
übertreibt gern.»
«Ja, ich weiß», antwortete Freddy. «Der Knabe ist ein ganz schöner Radaubruder. Den muss man scharf im Auge behalten. Stimmt’s, Junge?»
Jacob starrte die Tischplatte an, und Freddy gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und schritt davon. AlsJacob sich über den zweiten Schokoladenpudding hermachte, teilte er mir mit, Freddy sei sein Gruppenleiter und alles in allem gar kein so schlechter Kerl.
«Früher hat er von Diebstählen gelebt», sagte er. «Ein professioneller Ladendieb. Seine Masche war ziemlich clever, man hat ihn nie erwischt. Statt, wie die meisten das machen, mit einem weiten Mantel durch die Läden zu ziehen, hat er sich als Priester verkleidet. Da hat natürlich kein Mensch Verdacht geschöpft. Pastor Freddy, der Mann Gottes. Einmal ist er allerdings schwer in die Klemme geraten. Da war er irgendwo in Manhattan und wollte grade einen Drugstore ausrauben, als sich direkt vor seiner Nase ein Verkehrsunfall ereignete. Ein Mann, der über die Straße will, wird von einem Auto angefahren. Ein anderer schleift ihn auf den Bürgersteig, genau vor Freddys Füße. Alles ist voller Blut, der Mann ist bewusstlos, und es sieht aus, als würde er sterben. Gaffer drängen sich herum, und plötzlich entdeckt eine Frau Freddy in seinem Priesterkostüm und fordert ihn auf, dem Mann die Letzte Ölung zu geben. Pastor Freddy hat ausgeschissen. Er kennt diese ganzen Gebete ja nicht, aber wenn er jetzt wegrennt, wissen sie, dass er ein Betrüger ist und verhaften ihn, weil er sich als Priester ausgibt. Also beugt er sich über den Verletzten, faltet die Hände, damit es aussieht, als ob er betet, und murmelt irgendeinen feierlichen Blödsinn, den er mal im Kino gehört hat. Dann steht er auf, macht das Kreuzzeichen und haut ab. Lustig, was?»
«Hört sich an, als ob du bei diesen Sitzungen ordentlich was zu lernen bekommst.»
«Das war ja noch gar nichts. Ich meine, Freddy war doch bloß ein Junkie, der Geld für seinen Stoff gebrauchthat. Von den anderen hier haben viele echt abgedrehten Scheiß gebaut. Siehst du den Schwarzen da am Ecktisch, den großen in dem blauen Sweatshirt? Jerome. Ein Mörder, hat zwölf Jahre in Attica gesessen. Und am Tisch daneben die Blonde mit ihrer Mutter? Sally. In der Park Avenue aufgewachsen, stammt aus einer der reichsten Familien in New York. Gestern hat sie uns erzählt, wie sie auf der Tenth Avenue am Lincoln Tunnel auf den Strich gegangen ist, hat die Freier für zwanzig Dollar im Auto bedient. Und der Hispano da ganz hinten, der in dem gelben Hemd? Alfonso. War im Knast, weil er seine zehnjährige Tochter vergewaltigt hat. Ich sag’s dir, Sid, verglichen mit den meisten hier bin ich bloß ein netter Spießer.»
Der Pudding hatte ihm anscheinend neue Kräfte verliehen, und als wir unsere schmutzigen Tabletts in die Küche trugen, ging er mit federnden Schritten und nicht mehr wie der schlurfende Schlafwandler, den ich vor dem Lunch in der Eingangshalle gesehen hatte. Insgesamt war ich etwa dreißig bis fünfunddreißig Minuten mit ihm zusammen – das schien mir, was meine Pflicht gegenüber John betraf, lange genug zu sein. Als wir den Speisesaal verließen, fragte mich Jacob, ob ich noch mit nach oben gehen und mir sein Zimmer ansehen wolle. Um halb zwei finde eine große Gruppensitzung statt, sagte er, daran dürften auch Familienangehörige und Gäste teilnehmen. Wenn ich Lust habe, könne ich gern mitkommen, und bis dahin könnten wir in seinem Zimmer im dritten Stock herumhängen. Es hatte etwas Klägliches, wie er sich an mich klammerte, wie schwer es ihm offenbar fiel, mich ziehen zu lassen. Genau genommen kannten wir uns ja kaum, und doch muss er in diesem Haus so einsam gewesen sein, dass er sogar in mir einen Freund sah – dabeiwusste er genau, dass ich als Spion im Auftrag seines Vaters gekommen war. Ich versuchte so etwas wie Mitleid für ihn aufzubringen, aber es gelang mir nicht. Er war der Mensch, der meiner Frau ins Gesicht gespuckt hatte, und obwohl das nun sechs Jahre her war, konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihm das zu verzeihen. Ich sah auf die Uhr und sagte, ich habe in zehn Minuten eine Verabredung an der Second Avenue. In seinen Augen flackerte Enttäuschung auf, aber er fing sich sofort wieder und machte seine übliche gleichgültige Miene. «Was soll’s, Mann», sagte er. «Wenn du gehen musst, dann gehst du eben.»
«Wenn ich kann, komme ich nächste Woche wieder», sagte ich, obwohl ich nichts dergleichen im
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