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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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bitte?»
    «Jacob kann sie nicht ausstehen. Ihre Gegenwart ist ihm unerträglich.»
    «Kein Mensch kann Grace nicht ausstehen. Da müsste man schon geisteskrank sein.»
    «Mein Sohn sieht das anders.»
    «Davon hat sie mir nie was erzählt.»
    «Das hat schon angefangen, als die beiden sich zum ersten Mal gesehen haben. Grace war dreizehn, und Jacob war drei. Eleanor und ich hatten uns gerade scheiden lassen, und Bill Tebbetts hatte mich für ein paar Wochen zu seiner Familie in sein Landhaus in Virginia eingeladen. Es war Sommer, und ich hatte Jacob mitgenommen. Mit den anderen Kindern der Tebbetts schien er sich zu vertragen, aber jedes Mal wenn Grace ins Zimmer kam, schlug er sie oder warf mit Sachen nach ihr. Einmal hat er ihr ein Spielzeugauto ans Knie gehauen. Die Kleine hat geblutet wie verrückt. Wir sind mit ihr zum Arzt gefahren, und der hat die Wunde mit zehn Stichen genäht.»
    «Die Narbe kenne ich. Grace hat mir mal davon erzählt, aber Jacob nicht erwähnt. Sie hat nur gesagt, das war irgendein kleiner Junge, sonst nichts.»
    «Anscheinend hat er sie von Anfang an gehasst, von der allerersten Begegnung an.»
    «Wahrscheinlich hatte er den Eindruck, du magst sie zu sehr. Er hat sie als Rivalin gesehen. Dreijährige sind ja ziemlich irrationale Wesen. Sie können sich noch nicht richtig mit Worten ausdrücken, und wenn sie wütend werden, können sie nur ihre Fäuste sprechen lassen.»
    «Mag sein. Aber er ist dabei geblieben, auch als er älter wurde. Am schlimmsten war es in Portugal, ungefähr zwei Jahre nachdem Tina gestorben war. Ich hatte mirerst kurz zuvor das kleine Haus an der Küste im Norden gekauft, und Eleanor hatte ihn für einen Monat zu mir rübergeschickt. Da war er vierzehn und konnte sich mit Worten genauso gut ausdrücken wie ich. Als er kam, war Grace zufällig auch gerade da. Sie war mit dem College fertig und sollte im September bei Holst & McDermott anfangen. Im Juli kam sie nach Europa, um sich Bilder anzusehen – zuerst in Amsterdam, dann in Paris, dann in Madrid. Danach fuhr sie mit dem Zug nach Portugal. Ich hatte sie seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen, und wir hatten einiges nachzuholen, aber als Jacob dann eintraf, wollte er sie nicht in seiner Nähe haben. Dauernd stieß er, wenn auch leise, Beleidigungen gegen sie aus, stellte sich taub, wenn sie ihn was fragte, und ein paar Mal gelang es ihm sogar, sie mit Essen zu bekleckern. Ich ermahnte ihn immer wieder, damit aufzuhören. Noch eine solche Gehässigkeit, sagte ich, und ich schick dich zu deiner Mutter und deinem Stiefvater nach Amerika zurück. Und als er dann wieder mal so was getan hat, habe ich ihn ins Flugzeug gesetzt und nach Hause geschickt.»
    «Was hat er da getan?»
    «Ihr ins Gesicht gespuckt.»
    «Du liebe Zeit.»
    «Wir drei sitzen in der Küche und schneiden Gemüse fürs Abendessen. Grace macht irgendeine harmlose Bemerkung – was genau, habe ich vergessen   –, und Jacob fühlt sich auf den Schlips getreten. Er fuchtelt mit seinem Messer vor ihr rum und nennt sie eine blöde Kuh, und da ist Grace endlich der Kragen geplatzt. Und dann hat er sie angespuckt. Wenn ich jetzt so daran denke, kann man wohl von Glück reden, dass er ihr nicht das Messer in die Brust gerammt hat.»
    «Und du willst, dass ich morgen mit diesem Menschen rede? Dem sollte man eher einen ordentlichen Tritt in den Hintern geben.»
    «Ich fürchte, genau das könnte passieren, wenn ich selbst zu ihm ginge. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn du das machen würdest.»
    «Hat es seit Portugal noch andere solche Zwischenfälle gegeben?»
    «Ich habe die beiden auseinander gehalten. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und wenn du mich fragst, wird’s auf der Welt friedlicher zugehen, wenn das so bleibt.» 13
    13
    Am Ende willigte ich ein, Jacob zu besuchen – allein. Ich war bereit, John diesen kleinen Dienst zu erweisen, aber was er mir über die Abneigung des Jungen gegen Grace erzählt hatte, entsetzte mich. Selbst wenn er Grund zur Eifersucht hatte (der vernachlässigte Sohn, verdrängt zugunsten der geliebten «Patentochter»), konnte ich kein Mitleid empfinden – nur Abscheu und Verachtung. Ich wollte seinem Vater zuliebe in die Klinik gehen, aber ich kann nicht sagen, dass ich mich auf die Zeit in der Gesellschaft seines Sohnes gefreut hätte.
    Soweit ich mich erinnerte, hatte ich ihn zuvor nur zweimal gesehen. Da ich von seiner Vergangenheit mit Grace nichts gewusst hatte, hatte ich mir auch nie die

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