Nacht des Schicksals
liebenswürdig gewesen. Sie hatte auch seinen Vater gekannt. Dr. Ben Jamieson war der Hausarzt ihrer Familie gewesen. Kendra musste schlucken, als sie an ihren letzten Besuch in seiner Praxis dachte. Heiligabend vor acht Jahren. Es war der schlimmste Tag in ihrem Leben gewesen.
“Hallo, Blue!” Kendra ging ihm entgegen und nahm ihm die Briefe ab. “Es ist wirklich lange her.”
“Machst du deine Gartenarbeit jetzt selbst? Die Kendra, die ich damals kannte, hätte sich ihre hübschen Hände nicht schmutzig gemacht.” Blues freundliches Lächeln nahm seinen Worten jede Schärfe. “Wie kommt das? Ist den Westmores das Geld ausgegangen?”
Sie lachte. “Nein, das nicht gerade. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, einen Gärtner einzustellen. Meine Annonce müsste heute in der
Lakeview Gazette
stehen. Mein Großvater hatte in den letzten Jahren anscheinend eine Gartenbaufirma mit der Gartenpflege beauftragt, aber das ist mir zu unpersönlich.”
“Ja, Mr Westmore hat die Firma nach Danny Spencers Tod damit beauftragt. Was für eine Tragödie damals! Du hast sicher davon gehört.”
“Nein. Was ist geschehen?”
“Sein Sohn Jack und seine Schwiegertochter Maureen sind an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag mit Danny nach Vancouver gefahren”, erklärte Blue. “Er wollte zu einem Eishockeyspiel.”
“Ich wusste gar nicht, dass Brodie einen Bruder hat.”
“Jack war fünfzehn Jahre älter als Brodie. Ein netter Bursche. Er hat in der Royal Bank gearbeitet. Auf dem Rückweg von Vancouver hatten sie bei dichtem Schneetreiben einen schweren Unfall. Ein Lastwagen fuhr frontal in Jacks Wagen. Sie kamen alle ums Leben. Danny hat noch ein paar Tage im Krankenhaus durchgehalten, aber dann …”
Kendra spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. “Wie furchtbar.”
“Die Leute sagen, ein Gutes hat der Unfall jedenfalls gehabt. Er hat das Beste in Brodie Spencer zum Vorschein gebracht.”
“Hallo, Blue, sprichst du von mir?”
Blue und Kendra wandten sich um und sahen Brodie mit einem Becher in der Hand über den Rasen auf sich zukommen. Er war noch einige Meter entfernt und konnte außer seinem Namen nicht viel von ihrem Gespräch mitgehört haben.
“Ich habe Kendra nur an die alten Zeiten erinnert, Brodie”, meinte Blue lachend und nahm der Situation damit jede Peinlichkeit. “Als du noch der Teufel auf Rädern warst. Alle Burschen in der Stadt haben dich beneidet, als du dir deine Harley-Davidson gekauft hast.”
“Kendras Großvater hat mir das Geld dafür geliehen.”
Bevor Kendra protestieren konnte, fuhr Brodie trocken fort: “Natürlich hat er mich drei Sommer lang für sich schuften lassen, bis ich das Geld zurückgezahlt hatte.”
Blue lachte. “Ja, ich erinnere mich, Brodie. Wir anderen haben währenddessen am See gefaulenzt und unseren Spaß gehabt. Aber …” Er wandte sich an Kendra. “… ich muss weiter. War schön, dich mal wieder zu sehen!”
Brodie blieb, nachdem Blue davongefahren war.
“Ja?” Nervös schob Kendra die Briefe von einer Hand in die andere. “Was willst du?”
“Ich mache nur gerade eine kleine Pause”, erklärte Brodie vergnügt. “Hast du etwas dagegen, dass die Handwerker ihren Pausenkaffee in der Sonne trinken wollen?”
“Warum stichelst du dauernd herum? Was hoffst du damit zu erreichen?”
“Ich erhoffe mir eigentlich gar nichts. Aber was ich gern erreichen würde, ist … herauszufinden, was in deinem Kopf vorgeht.”
“Warum sollte dich das interessieren? Außerdem bin ich ein einfacher Mensch. Leicht zu durchschauen, leicht zu verstehen. Ich habe nichts Mysteriöses an mir, Brodie. Ich habe keine Geheimnisse.”
Das war die Lüge des Jahrhunderts! Ihr größtes Geheimnis kannte sie selbst nicht einmal. Es kam ihr vor wie ein Puzzle, bei dem alle Teile an ihrem Platz lagen – bis auf eines. Das Teil, ohne das sich das Puzzle nicht vervollständigen ließ. Aber dieses Stück war in zwei Teile gerissen worden. Sie besaß nur die eine Hälfte, und sie wusste nicht, wer die andere hatte. Es war ein Albtraum, mit dem sie seit mehr als acht Jahren lebte.
“Hat Megans Vater dich verstanden?”
“Wie bitte?”
Brodie sah sie eindringlich an. “Du sagtest, du seist leicht zu durchschauen. Hat dein Mann dich verstanden?”
Fast hätte Kendra aufgelacht. Sie konnte sich Brodies Gesichtsausdruck vorstellen, wenn er die Wahrheit erfuhr. Die skandalöse Wahrheit.
“Ja”, log sie. “Er hat mich sehr gut verstanden.” Sie
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