Nacht des Schicksals
hin? Sie würde es nach der Schule mit Megan besprechen müssen. Ihr graute vor dem Gespräch. Sie wusste, wie schwer es dem Kind fallen würde, schon wieder umzuziehen.
“Müssen wir jetzt darüber reden, Mom?”, fragte Megan.
“Ja”, sagte Kendra. “Etwas sehr Wichtiges ist geschehen.”
“Na gut. Aber können wir dann zum Freizeitzentrum gehen und mich für die Jazztanzgruppe anmelden?”
Kendra und Megan fuhren gemeinsam mit den Fahrrädern zum Freizeitzentrum am See. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Megan zum Jazztanz gehen konnte, solange sie auch dem Ballett treu blieb. Als sie mit der Anmeldung fertig waren, schlug Kendra vor: “Lass uns einen Spaziergang am Strand machen. Es ist ein so schöner Nachmittag.”
Der Strand war menschenleer, und während sie über den hellen Sand spazierten, sah Kendra sich erfreut um. Lakeview war eine hübsche kleine Stadt und die Lage am See malerisch. Das türkisfarbene Wasser war an diesem Tag ganz klar, und dahinter erhoben sich die schneebedeckten Gipfel der Berge vor dem azurblauen Himmel.
Kendra erzählte Megan von ihrem Gespräch mit Brodie. “Wir fanden es beide am besten, wenn wir bis zum Ende der Renovierungsarbeiten ausziehen”, schloss sie.
Megan sah besorgt zu ihr auf. “Aber wo können wir denn hin?”
“Ich werde uns ein Apartment in einem netten Motel …”
“Mom, die Motels hier sind furchtbar. Sie liegen direkt an der Hauptstraße, und es ist laut und …” Megan verstummte, als ihr ein anderer Gedanke kam. “Du hast gesagt, ich könnte Jodi zu Besuch einladen. Ich kann sie doch nicht in ein schäbiges Motelzimmer bitten!” Sie hob das Kinn. “Aber das würde dir genau passen! Du willst ja nicht, dass sie meine Freundin ist.”
“Das habe ich nicht gesagt …”
“Aber sie ist meine Freundin! Und wenn ich sie nicht einladen kann, muss ich eben am Samstag zu ihr gehen.”
“Ich möchte nicht mit dir darüber streiten, Megan.”
“Du hast damit angefangen!” Wütend funkelte Megan sie an.
“Ich glaube, wir brauchen jetzt beide erst einmal etwas zu essen. Nach deinen Schularbeiten können wir noch einmal darüber reden.”
“Schularbeiten!” Megan verzog das Gesicht. “Ich fürchte, da gibt es ein Problem.”
“Was denn?”
“Die Lehrerin hatte mein neues Mathebuch noch nicht. Deshalb habe ich mir Jodis geliehen. Ich wollte es gleich nach dem Unterricht zurückgeben.”
“Und das hast du vergessen.”
“Ich habe es hier in meiner Tasche”, gestand Megan verlegen. “Aber wir können es auf dem Nachhauseweg bei ihr abgeben, stimmt’s?”
“Das werden wir wohl müssen.” Noch während sie sprach, wurde Kendra klar, dass sie dazu Brodie Spencers Haus aufsuchen musste. Andererseits wollte sie Megan nicht allein durch die Stadt fahren lassen. “Wo wohnen sie denn?”, fragte sie.
“Am Ende der Calder Street. Ich weiß, dass es ein rotes Ziegeldach hat und einen weißen Zaun ums Grundstück. Jodi hat mir davon erzählt.”
Also hatte Brodie sich doch kein schickes Haus in einem der vornehmen Stadtviertel gebaut. Die Calder Street lag in einer Gegend mit eher bescheidenen Wohnhäusern.
“Ich weiß, wo die Calder Street ist”, sagte Kendra. “Lass uns jetzt umkehren und unsere Fahrräder holen.”
Brodie hatte gerade den Rasen gemäht und war dabei, das Gras abzuharken, als er sich plötzlich beobachtet fühlte. Er wandte sich um und blickte die Straße hinab.
Drei Häuser weiter stand, an ein Fahrrad gelehnt, Kendra Westmore am Straßenrand. Ein kleines Mädchen kam die Einfahrt zu seinem Haus heraufgeradelt. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter. Wie hieß die Kleine doch gleich? Megan.
Megan bremste scharf und ließ ihr Fahrrad fallen. “Mr Spencer?”
“Das bin ich.”
Sie nahm ihren Rucksack ab und nahm ein Schulbuch heraus. Dann trat sie auf ihn zu. “Ich bin Megan Westmore.”
“Hallo, Megan. Es freut mich, dich kennenzulernen. Was kann ich für dich tun?”
“Dies ist Jodis Mathebuch. Sie wird es für die Schularbeiten brauchen. Können Sie dafür sorgen, dass sie es rechtzeitig bekommt?”
“Warum bringst du es ihr nicht selbst? Dann kann ich es gar nicht vergessen. Sie ist hinten beim Pool. Geh durch die Pforte, und folge einfach dem Weg.”
“Danke, Mr Spencer.” Megan wandte sich zur Straße und rief: “Ich bin gleich wieder da, Mom!” Dann verschwand sie.
Ihre Mutter stand noch immer regungslos da. Die unverhoffte Begegnung war ihr sichtlich peinlich. Brodie bedeutete ihr
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