Nacht des Schicksals
sah, dass Brodie auf ihre Hände blickte, und plötzlich bemerkte sie, dass sie die Briefe zerknittert hatte. Sie holte tief Luft und versuchte, sich zusammenzureißen, damit ihre Hände nicht zitterten. Hoffentlich ahnte Brodie nicht, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.
Er schien nichts gemerkt zu haben und verfolgte das Thema nicht weiter. “Hör mal”, sagte er. “Weshalb ich wirklich gekommen bin … Du musst mit in die Küche kommen. Wir sind auf ein Problem gestoßen.”
“Was für ein Problem?”
“Ich zeige es dir lieber.” Sie gingen gemeinsam über den Rasen ums Haus. Aus dem Küchenfenster drang laute Musik. Als sie die offene Tür erreichten, blieb Brodie zurück, um Kendra zuerst eintreten zu lassen. Dann ging er zum Kofferradio auf dem Fensterbrett und schaltete es aus. “Hallo, Jungs, macht mal Pause.”
Die beiden Männer, die gerade die Wandverkleidung abrissen, ließen ihr Werkzeug sinken und nahmen ihre Atemschutzmasken ab. Auf dem Weg nach draußen blieb der jüngere der beiden auf der Türschwelle stehen. “Ach Boss, das hätte ich fast vergessen. Hayley hat angerufen. Sie möchte, dass Sie auf dem Heimweg Brot mitbringen.”
“Danke, Sandy.” Brodie schmunzelte. “Unter dem …”
“… Pantoffel stehe ich!”, vollendeten die beiden Arbeiter seinen Satz im Chor, als hätten sie die Geschichte schon oft gehört.
Brodie lachte. “Kein Respekt”, sagte er zu Kendra. “Niemand hat Respekt vor mir. Eines Tages …”
Kendra lachte gezwungen, war aber mit ihren Gedanken woanders. Was hatte Sandy gesagt? Hayley. Der Name war ihr fremd. In der Schule hatte es keine Hayley gegeben. War sie eines dieser flotten Stadtmädchen, die in den Sommerferien nach Lakeview kamen und den Burschen freitagnachts beim Tanz die Köpfe verdrehten?
“Komm mal hier rüber”, unterbrach Brodie ihre Gedanken.
Sie trat an seine Seite. Er schwang einen großen Schraubenzieher. “Pass auf”, forderte er sie auf.
Er stieß den Schraubenzieher in einen der Balken, der unter der Wandverkleidung freigelegt worden war. Das Werkzeug bohrte sich fast bis zum Anschlag hinein.
“Schwamm”, stellte er fest.
“Ist das schlimm?”
“Ziemlich schlimm. Ich habe nachgesehen und festgestellt, dass er sich über diese ganze Seite des Hauses ausgebreitet hat. Die Küche, der Vorraum, die Bedienstetenwohnung. Das muss alles gründlich renoviert werden.”
“Na wunderbar!” Kendra biss sich auf die Lippe. “Dann sind beide Küchen davon betroffen?”
“Ja.”
Obwohl es warm war, begann Kendra zu frösteln. “Wie lange wird das dauern?”
“Alles zusammen mehrere Wochen.”
“Dann sollten Megan und ich ausziehen.”
Brodie lehnte sich ans Waschbecken. “Ja, das wäre sicherlich am besten.”
Kendra seufzte enttäuscht auf und sagte mehr zu sich selbst: “Es ist schrecklich, Megan schon wieder aus einer Umgebung zu reißen, mit der sie gerade vertraut wird.”
“Ja, das ist für Kinder nicht leicht”, stimmte Brodie mitfühlend zu. “Möchtest du, dass wir die Arbeit einstellen, bis du eine neue Unterkunft gefunden hast?”
“Ja, das wäre mir ganz lieb.”
“Dann machen wir gleich Feierabend”, sagte er. “Aber wenn ich irgendetwas für dich tun kann, lass es mich wissen.”
Kendra sah ihn erstaunt an. Sie war noch nie einem widersprüchlicheren Menschen begegnet. Vor ein paar Minuten hatte er sie mit seinen Sticheleien fast in den Wahnsinn getrieben. Nun schien er aufrichtig besorgt und bot ihr seine Hilfe an.
“Das ist nett von dir”, erwiderte sie, “aber ich werde schon zurechtkommen. Wahrscheinlich nehmen wir ein Apartment in einem der Motels in der Nähe der Schule.”
“Wäre es nicht besser, vorübergehend ein Haus zu mieten? Oder wenigstens eine Wohnung? Ein Motel ist nicht gerade der geeignete Ort für ein Kind. Wie gesagt, es geht um mehrere Wochen.”
“Vielen Dank. Das ist mir schon bewusst.” Sie hatte nicht so kühl klingen wollen, aber nun konnte sie ihre Worte nicht mehr zurücknehmen.
“Also gut.” Er stieß sich vom Waschbecken ab. “Ruf mich an, wenn wir die Arbeit wieder aufnehmen können.”
Er schritt zur Tür und rief nach draußen: “He, Jungs, kommt herein, und sammelt eure Sachen ein. Fürs Erste machen wir hier Schluss.”
Kendra verließ die Küche und ging ins Wohnzimmer. Dort wartete sie hinter der Gardine, bis Brodies roter Pick-up und der blaue Lieferwagen mit den beiden Arbeitern die Einfahrt hinabrollten. Wo sollte sie nun
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