Nacht des Verfuehrers - Roman
den größten Teil unseres Territoriums beansprucht hat.« Seine Miene war ernst, ja, wütend. »Mein Großvater hätte uns fast zerstört, indem er sich für die Rhetorik der Revolution begeistert hat. Er hat den Versprechen der Russen vertraut und alles auf eine Rebellion gesetzt, die von den Griechen inszeniert wurde, um sich selbst zu befreien, nicht aber die Walachei. Sein Tod während des Krieges war das Einzige, was uns noch gerettet hat. Die europäischen Großmächte mögen beschlossen haben, die Türkei zu ihrem Schachbrett zu machen, aber mich soll der Teufel holen, wenn ich den Part des Bauern übernehme.«
Alcy wusste darauf nichts mehr zu erwidern, also verfielen sie in gespanntes Schweigen. Nach etwa einer Minute riskierte Volynroskyj einen Scherz und unterhielt sie bis weit nach dem Käse und dem Obst mit Geschichten von unerhörten Heldentaten. Dann fing Alcy, welcher der
Kopf von einem Glas Bordeaux zu viel schwirrte, damit an, mit Dumitru indiskrete Blicke zu tauschen.
»Ah!«, rief Volynroskyj schließlich und schaute zwischen den beiden hin und her. »Ich weiß, wann ich nicht mehr erwünscht bin. Ich lasse die beiden Turteltäubchen lieber allein. Madame, Comtesse, Princesse …« Er verbeugte sich so extravagant, dass die beschwipste Alcy leise zu kichern begann. »Ich wünsche eine gute Nacht und Lebewohl, denn morgen schickt mein gnadenloser Herr mich schon wieder auf eine Geschäftsreise. Adieu, zusammen!« Und damit ging er.
Dumitru stand auf und zog die Tür ins Schloss. Dann drehte er sich um und lächelte zart, als er Alcys Blick erheischte.
Sie lächelte zurück. Ihr war plötzlich warm und ihr schwirrten die Sinne von mehr als nur dem Wein. »Also«, sagte sie ein wenig heiser, »jetzt sind wir allein.«
»Schon wieder«, sagte er und kam näher.
»Endlich«, erwiderte sie und hob ihm das Gesicht entgegen. Er beugte sich über sie, um sie zu küssen, und in der Sekunde, bevor ihre Lippen sich trafen, flüsterte sie: »Ich bin glücklich.« Und das meinte sie ernster, als sie es sich vor zwei Tagen auch nur hätte erträumen können.
Kapitel 10
Zwei Wochen später war Alcy immer noch zufriedener, als sie es je erwartet hätte.
Am dritten Tag hatten sie sich einen bequemen Tagesablauf angewöhnt, und Alcy hatte ihre Routine den unverrückbaren Zeiten angepasst, in denen Severinor seines Herren bedurfte. Sie wachte bei Morgengrauen mit Dumitru auf, auch wenn sie das Bett manchmal erst eine halbe Stunde später verließen. Dann frühstückten sie gemeinsam. Anschließend trennten sie sich bis zum Mittagessen. Dumitru machte seine Runde und ging seinen endlosen Pflichten nach; Alcy betrieb ihre Studien und erledigte die Korrespondenz.
Als Erstes hatte sie einen schauderhaft komplizierten Brief an ihre Eltern zu schreiben, in dem sie ihnen – so gut es eben ging – mitteilte, was sich zugetragen hatte und dass sie zufrieden sei. Ihre Mutter würde sie verstehen, da war sie sich sicher. Ihr Vater würde verstört sein, aber willens, ihr schneller als üblich zu vergeben, da sie ja einen Baron gegen einen Grafen und Prinzen eingetauscht hatte.
Sie schrieb auch ihren Freunden und Verwandten sowie verschiedenen Mathematikern und Philosophen, mit denen sie korrespondierte, und teilte ihnen eine spezielle Adresse in Wien mit, wo die Post von einem Bootsführer abgeholt wurde, der sie per Schiff nach Orsova transportierte,
von wo aus sie dann zweimal pro Monat nach Schloss Severinor gebracht wurde. Die Isolation war das Einzige in ihrem neuen Leben, das Alcy wirklich bedrückte, denn sie war es gewohnt gewesen, an allem teilzuhaben, das sich in der Welt zutrug, und zwar sowohl auf ihren Interessensgebieten wie auch im Leben ihrer Verwandten.
Der Brief an Gretchen Roth war fast ebenso qualvoll wie der an ihre Eltern, denn sie vermisste ihre alte Gouvernante schmerzlich; aus der Lehrer-Schüler-Beziehung war längst eine Busenfreundschaft geworden. Die einzige Person, die auf ihrer Korrespondenzliste bemerkenswerterweise fehlte, war Ezekiel Macgregor, dem sie schon als Kind geschrieben hatte und – unter eklatanter Missachtung der gesellschaftlichen Normen – auch als junge Frau. Die Ironie entging ihr nicht. Jetzt als verheiratete Frau durfte sie endlich mit einem Junggesellen korrespondieren, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Nicht nach ihrem letzten Treffen, das so schlecht geendet und sie so wütend und betrogen zurückgelassen hatte. Danach war sie jedenfalls mehr als
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