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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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konnte.
    Sie hatten im Garten gegessen, Lukas spielte auf der Wiese mit einem Nachbarjungen. Hubert räumte das schmutzige Geschirr zusammen und brachte es in die Küche. Er war barfuß und spürte die Kühle des Grases, die schon die Nacht ankündigte. Als er zurückkam, fragte Astrid, warum er die Einladung nicht annehmen wollte.
    Weil ich nichts auszustellen habe, sagte er.
    Es wird nicht einfacher, sagte sie. Irgendwann musst du wieder etwas machen. Die Gegend da oben ist doch schön.
    Schöne Landschaften machen keine gute Kunst.
    Es gibt viele Kraftorte in der Gegend, sagte sie.
    Das ist dein Gebiet. Willst du mich loswerden?
    Astrid stand auf und rief nach Lukas. Ihre Stimme klang ungewöhnlich hart, als sie ihm befahl, sofort ins Haus zu kommen. Zehn Minuten später kam sie wieder in den Garten und sagte, Lukas warte auf Huberts Gutenachtkuss.
    Drinnen war es kühler, alle Rollläden waren geschlossen. Lukas lag ganz still in seinem Bett und wartete. Er schien Hubert in solchen Momenten wie ein fremdes Wesen, dessen Welt größer und dunkler war als seine eigene. Hubert beugte sich nieder, da packte Lukas seinen Hals und küsste ihn immer wieder auf die Wangen.
    Genug, genug, sagte Hubert. Du musst jetzt schlafen.
    Als er zur Treppe ging, fiel ihm ein früher Zyklus von Bildern ein, kleine Farbstiftzeichnungen von Küchen, Wohn- oder Schlafzimmern. Menschen waren auf den Bildern keine zu sehen, aber man spürte, dass eben noch jemand dagewesen war oder gleich jemand kommen würde. Er blieb auf einer der obersten Stufen stehen. Aus der Küche war das Klirren von Geschirr zu hören. Dann sah er Astrid durch den dunklen Flur gehen, ohne dass sie ihn oben auf der Treppe bemerkt hatte. In den Händen hielt sie eine Weinflasche und zwei Gläser. Ihr Gang sah aus, als wolle sie nicht bemerkt werden. Hubert ging leise die restlichen Stufen hinunter und sah, dass Astrid an der Glastür zum Garten stehen geblieben war. Sie zögerte, vielleicht hatte sie etwas gesehen oder gehört. Er trat mit ein paar schnellen Schritten hinter sie, legte seine Arme um ihre Taille und küsste ihren Nacken. Sie drehte sich zu ihm um. Als er sie wieder küssen wollte, machte sie sich los.
    Ich muss mit dir reden.

    Hubert erinnerte sich nur vage an das Gespräch. Auf dem Nachbargrundstück war alle paar Minuten ein Halogenstrahler angegangen, weil irgendein Tier den Bewegungsmelder ausgelöst hatte. Aus der Ferne war das leise Rauschen der Autobahn zu hören. Es war kühl geworden, Astrid hatte sich längst in eine Decke eingewickelt. Als sie gegen Mitternacht endlich ins Haus gingen, fiel es Hubert schwer, gerade zu gehen. Er trug zwei leere Weinflaschen hinein, stellte sie auf den Esstisch und legte sich aufs Sofa. Astrid sagte nichts mehr und ging ins Bett.
    Es war das erste von vielen Gesprächen, die immer gleich verliefen. Sie fühle sich in ihrer Beziehung gefangen, sagte Astrid. Mit Rolf sei das ganz anders. Er öffne sich. Seit sie angefangen hatte, in der Therapeutenszene zu verkehren, redete sie in einer anderen Sprache.
    Sie erklärte Hubert jedes Mal ganz ruhig ihren Standpunkt und reagierte verständnisvoll auf seinen Zorn, was ihn nur noch wütender machte. Das alles habe nichts mit ihm zu tun. Ihre Entscheidung sei gefallen. Schließlich blieb Hubert nichts anderes übrig, als in eine Trennung auf Probe einzuwilligen. Astrid sollte mit Lukas im Haus bleiben, während er sich eine kleine Wohnung suchen würde.
    Nachdem Hubert von Astrids Liebhaber wusste, hatte sie keinen Grund mehr, sich heimlich mit ihm zu treffen. Jeden zweiten oder dritten Abend zog sie los. Hubert saß dann den ganzen Abend zu Hause und passte auf Lukas auf, der jetzt oft unruhig schlief und über unheimliche Träume klagte. Wenn Astrid gegen ein Uhr nachts nach Hause kam, saß Hubert noch immer vor dem Fernseher, und sie verschwand, ohne etwas zu sagen, in den oberen Stock.

    Mitte Juni war das Semester zu Ende, trotzdem fuhr Hubert jeden Tag an die Hochschule. Er hatte eine Einzimmerwohnung in der Nähe des Sees gefunden. Die Einladung aus den Bergen hatte er längst vergessen, als Arno sich noch einmal meldete.
    Was muss ich tun, um dich zu überzeugen?, schrieb er. Nach dem Mittagessen trank Hubert einen Kaffee mit der Leiterin der Studienabteilung. Sie wusste von seiner Trennung von Astrid und riet ihm, die Einladung anzunehmen. Er habe noch ein ganzes Jahr Zeit, irgendetwas werde ihm schon einfallen. Vielleicht tue ihm der Druck sogar

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