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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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interessierte.
    Ein paar Tage darauf hatten Julie und er sich getroffen. Als er Gillian im Café sitzen sah, war er nicht überrascht. Er hatte ihr Gesicht schon lange aus dem Fernsehen gekannt, aber erst als er ihr im Studio begegnet war, hatte er ihre Unsicherheit und ihre Offenheit gespürt, die auf dem Bildschirm nicht zu sehen waren. Er lud sie in sein Atelier ein. Während er ihr seine Bilder zeigte, berührte Gillian seine Hand, und er war nahe daran, seinen Arm um ihre Schultern zu legen. Er bot ihr ein Bier an und betrachtete sie, während sie es trank. Er sah die Möglichkeiten ihres Gesichts, nicht so sehr seine Schönheit, sondern seine Vielfalt, die vielen Gesichter, die in ihm steckten.
    Nachdem Gillian gegangen war, schaute Hubert sich noch einmal die Bilder an, die er von Astrid in Südfrankreich gemacht hatte. Er konnte sich an ihre Aufregung erinnern, wenn er mitten in der Landschaft das Auto anhielt. Astrid zog sich im Wagen aus, während er sich umschaute. Sie ging auf Zehenspitzen über den steinigen Boden, er wählte den Ausschnitt, machte ein Bild. Einmal waren sie von einem Bauern verjagt worden, ein andermal hatte sich Astrid einen großen Dorn in den Fuß getreten und sie mussten zu einem Arzt. Astrids Posen waren klassisch, in ihrer Steifheit hatten die Bilder fast etwas Kubistisches. Als er die Fotos abzeichnete, hatte er mehr Sorgfalt auf die Landschaften als auf ihren Körper verwendet. Danach wollte sie ihm nicht mehr Modell stehen. Eines der Bilder hatte eine Zeitlang in ihrer Wohnung gehangen. Erst nachdem Hubert bemerkt hatte, wie viele ihrer Besucher mit Verlegenheit darauf reagierten, hatte er es von der Wand genommen. Astrid hatte nichts gesagt. Danach hatte er angefangen, die kleinformatigen Innenräume zu zeichnen. Dass sie menschenleer waren, war kein Konzept, sondern eher die Folge seiner Unfähigkeit.
    Die Idee mit den Passantinnen hatte er lange, bevor er Astrid davon erzählte. Da würde sowieso niemand mitmachen, sagte sie.
    Am Anfang hatte wirklich niemand mitgemacht. Mit der Zeit gewöhnte Hubert sich an die Absagen. An der Art, wie die Frauen zögerten, bevor sie ihn zurückwiesen, lernte er einzuschätzen, bei welchen er am ehesten eine Chance hatte und wie er am besten vorging. Er fing an, die Innenstadt zu meiden und ging stattdessen in die Außenviertel. Die erste Zusage bekam er an einem regnerischen Frühlingsmorgen. Er stand vor einem Hallenbad und sprach eine vielleicht fünfzigjährige sportliche Frau mit kurzgeschnittenen Haaren an. Nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte, lachte sie laut und fragte, woher sie wisse, dass er kein Wüstling sei. Er sagte, es bleibe ihr nichts anderes übrig, als sich auf ihn zu verlassen. Er begleitete sie in ihre Wohnung. Er war so aufgeregt, dass er schon während des Fotografierens spürte, dass die Bilder nichts werden würden. Trotzdem belichtete er vier oder fünf Filme, bevor er sich bedankte und sagte, er habe, was er brauche. Hubert versprach ihr, sie zur Vernissage einzuladen, wenn jemals eine Ausstellung stattfinden sollte. Die Frau war tatsächlich mit ihrem Mann zur Vernissage gekommen und enttäuscht gewesen, dass sie auf keinem der Bilder zu sehen war.
    Mit jedem neuen Modell war Hubert ruhiger geworden und die Fotos besser. Aber irgendwann waren die Sitzungen nur noch Routine, und er merkte, dass er anfing, sich zu langweilen. Das war kurz vor der Ausstellung gewesen, und während er sich für seine Arbeiten feiern ließ und in Interviews Unsinn darüber erzählte, wusste er schon, dass er etwas Neues würde beginnen müssen. Sein Galerist erzählte ihm vom Bilderzyklus eines amerikanischen Künstlers, der während fünfzehn Jahren unzählige Male dieselbe Frau, eine Nachbarin, gemalt habe. Die Bilder habe er niemandem gezeigt, nicht einmal seine Frau und der Mann des Modells hätten von ihnen gewusst. Hubert beschaffte sich einen Katalog mit den Bildern und beschloss, sich auf ein Modell zu konzentrieren. Als Gillian ihn im Atelier besuchte, dachte er, dass sie es sein musste.
    Die Vorstellung, Gillian zu malen, ließ ihn nicht mehr los. Während er lustlos seine letzten Akte beendete, stellte er sich vor, wie das, was er in ihrem Gesicht gesehen hatte, auf die Leinwand zu bringen wäre. Sie meldete sich nach zwei Wochen. Den Ärger in ihrer Mail nahm er gar nicht richtig wahr, er war sicher, dass sie ebenso entschlossen war wie er. Aber die Sitzungen liefen von Anfang an schlecht. Gillian hatte sich

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