Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Blumenbouquet mit einer heruntergebrannten Grabkerze, der einzige Hinweis, dass hier ein Unfall geschehen war. Gillian fragte sich, wer es hierhin gestellt hatte. Sie nahm es mit und verstaute es auf dem Rücksitz. Als sie eine Stunde später an einer Raststätte anhielt, um zu tanken, warf sie es in einen großen Mülleimer, auf dem in vier Sprachen Danke stand.
Nie wird es mir gelingen, in ein Porträt die ganze Kraft zu legen, die in einem Kopf ist. Allein die Tatsache zu leben erfordert schon einen solchen Willen und eine solche Energie ...
Alberto Giacometti
Staub sei materialisierte Zeit, Hubert konnte sich nicht erinnern, von wem dieser Satz stammte und wo er ihn gelesen hatte. Jedenfalls hatte sich in seinem Atelier viel Zeit angesammelt, über allem lag eine dünne, fast durchsichtige Staubschicht. Er machte sich nicht die Mühe sie wegzuwischen, er war nur hergekommen, um seine alten Arbeiten durchzusehen und zu schauen, ob er irgendetwas davon verwenden könnte. Die großen Akte, die er vor Jahren gemalt hatte, die Hausfrauenakte, wie sein Galerist sie nannte, schaute er sich nicht an, sie waren ihm so fremd geworden, als hätte sie ein anderer gemalt. Er nahm einen Stapel großer Mappen vom Wandregal. Er öffnete eine nach der anderen, blätterte durch Industrielandschaften, Bleistiftzeichnungen technischer Geräte, Porträts und Aktskizzen, die ältesten Sachen stammten noch aus seiner Studienzeit. Nach kurzem Zögern öffnete er eine Mappe mit der Aufschrift Astrid. Sie enthielt zwei Dutzend Fotos und einige Zeichnungen. Er hatte sie ganz am Anfang ihrer Beziehung gemacht, während der Sommerferien in Südfrankreich. Sie waren mit dem Auto in der Gegend herumgefahren und hatten auf Campingplätzen übernachtet. Auf jedem Bild stand Astrid nackt in einer anderen Landschaft, auf manchen war sie so klein, dass sie kaum zu erkennen war. Er hatte sich vorgenommen, die ganze Fotoserie mit Farbstiften abzuzeichnen, aber nur wenige waren fertig geworden. In seiner Erinnerung waren sie besser gewesen. Er legte alles zurück in die Mappe und öffnete die nächste.
Eine Stunde später stand Hubert wieder draußen vor dem Gebäude. Er hatte nichts Brauchbares gefunden, nur die Dias und den Projektor hatte er ins Auto getragen, Rohmaterial, das er vielleicht noch gebrauchen konnte. Obwohl es fast Mitternacht war, war die Luft warm.
Seit bald sechs Jahren unterrichtete er an der Kunsthochschule. Das Semester dauerte noch zwei Wochen, aber für ihn war es jetzt schon zu Ende, und er spürte jene seltsame Mischung aus Freiheit und Beklemmung, die ihn vor jeder Sommerpause ergriff.
Er hatte sich eine Zigarette angezündet und das Fenster heruntergelassen. Überall waren noch Leute unterwegs, aus der Ferne war eine Sirene zu hören. Das ungewöhnlich warme und trockene Wetter hielt nun schon fast einen Monat lang an. Erst hatte Hubert sich darüber gefreut, je länger es dauerte, desto mehr beunruhigte es ihn. In den Nachrichten wurde über vertrocknete Kulturen berichtet, und alle redeten von der Klimaerwärmung, aber das war nicht der Grund für seine Unruhe. Als er über die Quaibrücke fuhr, sah er die Lichter der Sturmwarnung blinken.
Am nächsten Morgen fiel leichter Regen. Hubert hatte das Fenster geöffnet, und ein kühler Wind wehte ihm ins Gesicht. Er war früh aufgestanden und hatte die Wohnung auf seine Abwesenheit vorbereitet. Im Auto hörte er die Wettervorhersage. Es hieß, in den nächsten Tagen werde es kalt und regnerisch bleiben, die Schneefallgrenze solle auf unter tausend Meter sinken.
Er geriet mitten in den Berufsverkehr. Er war kein sehr routinierter Fahrer, und wenn er die Spur zu spät wechselte oder bei einer Ampel eine Sekunde zu spät losfuhr, hupte es hinter ihm. Auf der Autobahn fuhren die anderen Wagen dicht auf. Nach zwei Stunden, kurz bevor er die Autobahn verlassen musste, hielt er an einer Raststätte an und trank einen Kaffee. Im Restaurant hingen Gemälde eines Malers, der sich mit Bildern von Tigern und Elefanten einen Namen gemacht hatte. Auf einem kleinen Faltblatt standen die absurd hohen Preise der Werke. Die Bilder stießen Hubert fast körperlich ab, und er brach bald wieder auf.
Während er weiterfuhr, spielte er kurz mit dem Gedanken, sein Geld wie dieser Künstler zu verdienen. Seit er unterrichtete, kam er kaum noch zum Malen. Er redete sich ein, ihm mangele es an Zeit. Früher hatte er sich immer lustig gemacht über die Künstler, die sich auf Professorenposten
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