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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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einnisteten, aber nach Lukas’ Geburt nahm er das Angebot der Hochschule an. Eine Festanstellung schien die einzige Möglichkeit, ein einigermaßen bürgerliches Leben zu führen und nicht als verarmter Künstler zu enden.
    Als Lukas in den Kindergarten kam, fing Astrid wieder an zu arbeiten, in der Liegenschaftsabteilung derselben Bank, bei der sie schon früher angestellt gewesen war. Sie zogen in die Nachbarstadt, wo sie sich ein kleines Haus am Stadtrand leisten konnten.
    Astrid fing an, sich neben ihrer Arbeit in Energie- und Körperarbeit weiterzubilden. Hubert hielt nicht viel von der esoterischen Lebenshilfeszene, in der sie sich zu bewegen begann. Ein paar Mal machte er ironische Bemerkungen, aber sie reagierte so gereizt, dass er nichts mehr sagte, wenn sie sich wieder für einen Wochenendkurs in Psychodrama oder Atemtherapie anmeldete.
    Schon nach kurzer Zeit bot sie Coachings für Führungskräfte an. Sie richtete sich im Keller eine Art Behandlungszimmer ein. An die Wände hängte sie Bilder einer italienischen Künstlerin, mit der Hubert befreundet war. Ihm waren die mehrfachbelichteten Stadtlandschaften, durch die sich anonyme Passanten bewegten, immer ein wenig zu kühl vorgekommen, aber Astrid sagte, sie seien gerade richtig für ihre Kunden. Nur auf ein kleines Tischchen in einer Ecke stellte sie einen Rosenquarz. Sie ließ einen Flyer drucken, in dem von Kompetenzträgern und Problembewusstsein, von Ressourcen und Parametern die Rede war, und bald darauf kamen die ersten Kunden, meist Leute aus ihrer Bank, und verschwanden mit ihr im Untergeschoss.
    Wenn ich genug Kunden habe, mache ich mich selbständig, sagte Astrid beim Abendessen. Sie ärgerte sich furchtbar, als Hubert sagte, ihre Vorgesetzten kämen nur zu ihr ins Coaching, weil sie so sexy sei. Oder ist es Zufall, dass du bei den Sitzungen immer einen kurzen Rock trägst? Du solltest dir auch mal ein paar Gedanken über deine Work-Life-Balance machen, sagte sie, und außerdem wäre ich froh, wenn du nicht immer genau dann den Rasen mähst, wenn ich einen Kunden habe.

    Von außen betrachtet ging es ihnen so gut wie noch nie, aber Hubert kam sich an der Hochschule immer mehr wie ein Betrüger vor, wenn er vor den Studenten stand und ihre Arbeiten kritisierte. Für die Semesterferien nahm er sich jedes Mal Großes vor, dann vergingen die Wochen und er schob die Arbeit immer wieder hinaus, werkelte im Garten oder im Haus und beschäftigte sich mit unbestimmten Recherchen für Projekte, aus denen nie etwas wurde. Er las viel und traf sich mit Kollegen. Er hatte noch das Atelier in der alten Spinnerei, aber er fuhr kaum noch hin. Anfangs hatte er sich eingebildet, seine Schwierigkeiten markierten den Anfang einer neuen Schaffensphase. Seinen Galeristen vertröstete er von Monat zu Monat. Der fragte immer seltener nach, woran Hubert arbeite, und schickte ihm stattdessen Fotos vom Hund, den er sich angeschafft hatte und Einladungen zu den Vernissagen seiner anderen Künstler. Hubert warf nur einen flüchtigen Blick auf die Karten und legte sie dann weg, halb eifersüchtig, halb gelangweilt von der Ernsthaftigkeit, mit der seine Kolleginnen und Kollegen die plattesten Ideen verfolgten.
    Dann bekam er eine Mail von Arno, dem Leiter eines Kulturzentrums in den Bergen, in dem er vor sieben Jahren seine erste und einzige große Ausstellung gehabt hatte. Während ihm das alles unendlich fern vorkam und er keine lebendige Erinnerung an den Ort, die Räume oder an die Leute dort hatte, schien dieser Arno noch ganz erfüllt von ihrer Begegnung. In der Einladungsmail duzte er ihn, schrieb begeistert über die damalige Ausstellung und lud Hubert wieder ein. Er gebe ihm ein Budget und Carte blanche, er könne im Kulturzentrum wohnen, so lange er wolle, nur der Termin für die Ausstellung sei fix, Ende Juni nächsten Jahres. Hubert wollte gleich absagen, aber dann druckte er die Mail aus und legte sie auf den Stapel mit unerledigten Dingen.

    Nach dem Abendessen erzählte er Astrid von Arnos Mail. Das war schön damals, sagte sie, weißt du noch? Ich habe dir beim Aufhängen der Bilder geholfen. Da war ich schwanger. Wir hatten dieses kleine Zimmer im oberen Stock mit einem Bett, das furchtbar knarrte. Irgendwann hat Arno sogar eine Bemerkung gemacht, aber dich hat das nicht gestört. Sie lächelte kurz, dann nahm ihr Gesicht einen Ausdruck an, als sei sie irritiert über ihre Erinnerungen. Kann sein, sagte Hubert, obwohl er sich an nichts erinnern

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