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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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gehörte und für das sie die Verantwortung trugen, ohne recht zu wissen, was sie mit ihm anfangen sollten. Sie spürte, wie die jungen Eltern ihren Blicken auswichen.
    Es war ein sonniger Februartag, die Luft war kühl, und der Wind blies vereinzelte Wolken über den Himmel. Gillian stand auf dem Balkon ihres Zimmers und rauchte. Sie hatte sich in eine Wolldecke gehüllt und schaute hinunter auf die Stadt und den See. Sie fröstelte und zündete sich eine zweite Zigarette an. Das Rauchen war auf dem ganzen Areal verboten, und eine Schwester, die unten vorbeiging, machte ein empörtes Gesicht und wedelte mit der Hand vor ihrer Nase herum. Gillian tat, als verstehe sie nicht. Ein junges Paar verließ das Gebäude. Der Mann trug das Baby ungeschickt in den Armen. Die Frau hatte sich bei ihm eingehakt, sie ging unsicher und sah nicht besonders glücklich aus. Ich bin eine Witwe, plötzlich war das Wort da und es war schockierender als ihre Verletzung, als Matthias’ Tod, als alles.
    Die Wolken gaben die Sonne frei, und Gillian trat geblendet einen Schritt zurück. Der Arzt kam kurz vorbei, um sich zu verabschieden. Er sagte, sie solle in nächster Zeit nicht in die Sonne gehen und die ersten Tage ihr Gesicht nicht nass machen. Außerdem dürfe sie keinen Sport treiben und überhaupt solle sie Anstrengung vermeiden. Sonst könne sie machen, was sie wolle. Er gab Gillian die Hand und sagte, er müsse weiter, man sehe sich in fünf Monaten. Gillian schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Sie packte den Koffer und trat auf den Flur. Sie verabschiedete sich schnell von den Schwestern. Etwas hinderte sie daran, das Gebäude durch den Haupteingang zu verlassen. Am Ende des Flurs war ein Treppenhaus, das zur Notfallabteilung führte. Dort gab es einen Nebenausgang. Sie bestellte ein Taxi. Während sie wartete, überlegte sie, wohin sie gehen könnte. Sie mochte keinen ihrer Freunde sehen, niemanden, den sie vorher gekannt hatte und der ihr altes mit ihrem neuen Gesicht vergleichen könnte. Als das Taxi endlich kam, zog sie ihre dunkle Sonnenbrille an und rannte fast die paar Schritte bis zum Wagen.
    Von zu Hause aus rief sie das Polizeirevier an und verlangte, mit Frau Bauer zu sprechen. Die Polizistin war unterwegs, der Beamte notierte Gillians Nummer und versprach, seine Kollegin werde zurückrufen. Als sie drei Stunden später anrief, weinte Gillian fast. Sie erklärte der Polizistin, wer sie sei.
    Wie kann ich Ihnen helfen?
    Gillian zögerte, dann sagte sie, mein Mann war nicht schuld an dem Unfall. Ich sollte ja nach Hause fahren. Und dann habe ich getrunken und konnte nicht mehr.
    Das haben Sie mir bereits erzählt, sagte die Polizistin.
    Es war nicht seine Schuld, sagte Gillian noch einmal und musste weinen.
    Er hätte nicht fahren dürfen, sagte die Polizistin mit sachlicher Stimme. Vielleicht brauchen Sie doch Unterstützung. Soll ich Ihnen die Telefonnummer der Opferhilfe noch einmal geben?
    Ich bin nicht das Opfer, sagte Gillian und legte auf.
    Sie rief Matthias’ Mutter an und erzählte ihr alles, aber auch sie wollte nichts von Gillians Schuld hören. Sie sagte, es habe keinen Sinn, einen Schuldigen zu suchen, Matthias’ Tod sei Gottes Wille gewesen. Das Gespräch dauerte kaum länger als jenes mit der Polizistin.
    In den nächsten Tagen dachte Gillian immer wieder an die Silvesterparty und daran, wie sie den Unfall hätte verhindern können. Sie hätte darauf bestehen müssen, bei Dagmar zu übernachten, sie hätte nicht ins Auto einsteigen dürfen, sie hätte Hubert nie erlauben dürfen, sie nackt zu fotografieren.
    Am Sonntag früh rief sie ihre Eltern im Ferienhaus an. Ihr Vater war am Apparat. Sie fragte ihn nach der genauen Unfallstelle. Jemand von seiner Werkstatt hatte den demolierten Wagen abgeschleppt, und er konnte es ihr genau erklären. Gillian sagte, sie nehme sein Angebot gerne an, eine Weile im Ferienhaus zu wohnen. Er sagte, sie würden erst gegen Abend fahren, das Wetter sei gut und sie wollten noch einmal auf die Piste.
    Kommst du heute schon rauf? Es wäre schön, wenn wir uns noch sehen.
    Das schaffe ich nicht, sagte sie.
    Du weißt ja, wo der Schlüssel liegt, sagte der Vater.
    Sie verbrachte den Sonntag damit, ihre Sachen zu ordnen und ihren Koffer zu packen, ohne dass sie wusste, wie lange sie in den Bergen bleiben würde. Am Montagmorgen fuhr sie zur Unfallstelle. Sie parkte auf einem Waldweg hundert Meter weiter und ging zu Fuß zurück. Am Straßenrand stand ein verwelktes

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