Nacht ohne Schatten
Täter ist Rechtshänder, würde ich tippen. Etwa so groà wie das Opfer, vielleicht etwas gröÃer. Die Klingenlänge können wir erst beziffern, wenn wir fertig untersucht haben. Das kann dauern. Verdammt viel Arbeit ist das, jede einzelne Wunde aufzubereiten.«
Als sei das Wort »Arbeit« ein Code, beginnt Judiths Handy Rockmusik zu dudeln. Sie dreht sich weg, hält ihr freies Ohr zu, um das halblateinische Fachkauderwelsch, mit dem sichMüller und sein Talent über ihre Beobachtungen verständigen, auszublenden.
»Auf Bergers Schuhen sind fremde Fingerabdrücke«, berichtet sie, als sie ihr Telefonat beendet hat.
»Von seinem Schuhverkäufer.«
»Klaus sagt, die Schuhe sind nicht neu und auch nicht frisch besohlt. Die Schnürsenkel waren offen, ist dir das aufgefallen?«
»Jemand wollte ihm die Schuhe ausziehen.«
»Und wer?« Judith Krieger lehnt sich an einen freien Obduktionstisch.
»Wenn unser Täter tatsächlich ein Tippelbruder ist, macht das doch Sinn. Jacke, Rucksack, Schuhe â kann er alles gebrauchen. Und dann kommt unser Zeuge und stört ihn, also haut er ab.« Manni betastet seinen Nacken. Eine Massage täte jetzt gut. Nicht nur im Nacken. Von Sonja.
»Okay, angenommen, es war ein Obdachloser. Wie ist er zum Tatort gekommen?« Der sonst so auffällige türkisblaue Rand um die grauen Iris der Krieger ist im grellen Licht der Obduktionslampen kaum zu erkennen.
»Er hat die Endstation verpennt«, schlägt Manni vor.
»Mag sein.« Sehr überzeugt sieht seine Kollegin nicht aus.
»Berger schmeiÃt ihn raus, da wird er sauer. Wartet, bis der ihm den Rücken zukehrt, dann sticht er zu.«
»Elf Mal?«
»Vielleicht ist er durchgeknallt. Oder er wollte einfach nur sichergehen, dass Berger wirklich tot ist.«
»Hass.« Judith Krieger fixiert den toten S-Bahn-Fahrer, als erwartete sie, dass der diese Theorie bestätigt.
Schweigend sehen sie zu, wie die Russin ihre Pinzetten und Messer in den ohnehin schon geschundenen Rücken pikt. Wie immer bei Obduktionen ist Karl-Heinz Müller bester Laune. Er klimpert mit seinen Instrumenten und pfeift
Kalinka,
ein offensichtlicher Tribut an seine Kollegin, die dies jedoch völlig kaltzulassen scheint. Ohne eine Miene zu verziehen, schnippeltsie an Berger herum. Wenigstens hat der noch nicht begonnen zu stinken. Man muss ja für die kleinen Freuden dankbar sein. Die Erinnerung an das ungute Gefühl während der fruchtlosen nächtlichen Sucherei drängt sich erneut in Mannis Bewusstsein. Hat ihn tatsächlich jemand beobachtet, oder hat er sich das nur eingebildet?
Er räuspert sich. »Vielleicht wusste der Täter, wann Berger Pause macht, und hat ihm neben den Gleisen aufgelauert.«
»Wenn es so war, muss es eine Beziehung zwischen Berger und dem Täter geben«, sagt Judith Krieger. »Vielleicht hat einer der Anwohner was gesehen. Oder die Kameras. Die Kriminaltechnik ist dran, Ralf Meuser klappert die Häuser ab. Lass uns jetzt erst mal in Bergers Wohnung fahren.«
Ein rotgesichtiger Hausmeister empfängt sie im Parterre des Ehrenfelder Hochhauses, in dem der S-Bahn-Fahrer für 447 Euro Warmmiete 59 Quadratmeter im sechsten Stock angemietet hatte. Die Wohnung ist spartanisch eingerichtet. Sofa, Schrankwand, Esstisch, Fernseher und Stereoanlage im Wohnzimmer. Eine winzige Küche mit vergilbten Hängeschränken. Das Schlafzimmer müffelt nach Schmutzwäsche. Ãber dem französischen Bett hängt das Acryllackgemälde einer sich am Meer räkelnden, nackten Blondine, die ihre unnatürlich spitzen, aufrecht stehenden Kegelbrüste einem Schwan offeriert. Die Farbgebung soll wohl Romantik demonstrieren: Rot, Orange und Schwarz dominieren.
»Sehr hübsch.« Die Krieger zieht die Augenbrauen hoch.
Manni öffnet die Schublade des Nachttischschränkchens. Nasentropfen, Taschentücher und Pornoheftchen, geschmacklos, aber legal. Das fensterlose Bad riecht nach Schimmel, die Armaturen sind blind von Kalk. Es gibt nur eine Zahnbürste und kein Parfum, keine Tampons, keinen Lippenstift, einfach nichts, was auf die Anwesenheit einer Frau in Bergers Leben hindeuten würde. Die Innenseite der Schranktüren in Schlafzimmer und Küche sind mit Playboy-Pin-ups dekoriert. Schwul war Berger wohl jedenfalls nicht.
»Er hat kein Telefon.« Die Krieger tigert auf und ab, ihre
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