Nacht ohne Schatten
erschaffen, eine Abstraktion, die dennoch das Wesen des Fliegens wiedergibt, diese Fähigkeit zur Schwerelosigkeit, die sie sich oft für sich selber wünscht, vor allem an Tagen wie diesem, an denen jeder einzelne Schritt kochendes Blei durch ihre Knochen jagt.
Niemand ist in ihrem Atelier gewesen, absolut niemand. Wie auch, wenn die Tür verschlossen war und keiner auÃer Thea einen Schlüssel besitzt? Sie hat gestern Abend abgeschlossen, wie immer. Sie hat gerade den Schlüssel zweimal im Schloss drehen müssen, um die Eisentür zu öffnen. Natürlich hat sie das. Sie kann sich nur nicht richtig erinnern, wegen der Schmerzen.
Sie schlurft zu ihrem Sofa, legt das kaputte Bein hoch und betrachtet die Flügelmodelle, die auf dem Boden liegen. Die Ausstellung heiÃt
Angels,
wahrscheinlich weil die Veranstalter das schicker finden als das deutsche Wort Engel. Eine Menge Prominenz hat sich angesagt, Schloss Wahren ist für die Qualität seiner Ausstellungen bekannt. Wenn Theas Exponate gefallen, wird sie vielleicht etwas verkaufen. AuÃerdem belohnt eine Jury die besten Beiträge mit einem Preisgeld, das ihr ein paar unbeschwerte Monate bescheren würde.
Der Steinkorpus ist das geringste Problem, immer fällt es ihr am leichtesten, mit Stein zu arbeiten. Goldenen Sandstein hatsie gewählt und sanfte Wellen hineingemeiÃelt, die Wüste und Meer zugleich symbolisieren, vom Wind gekräuselt, Extreme des irdischen Lebens. Treibholz darüber, vergehende Schönheit, auch das wird gelingen. Und dann das Wichtigste, der Flügel. Doch bislang ist sie noch nicht einmal annähernd zufrieden mit ihren Modellen. Vielleicht ist Gips das falsche Material. Vielleicht muss sie mit Gaze arbeiten. Oder mit Metall.
»Hallo?«
Die Sprecherin steht ganz plötzlich in Theas Atelier, in Jeans, Stiefeln und dickem Pullover. Ihr Gesicht ist fleckig von Sommersprossen, schön, auf eine aparte Art. Wilde Locken umrahmen es, genau genommen wirkt die ganze Frau ziemlich wild, als habe sie der Wind hereingeweht. Manchmal kommen Künstler und fragen nach einem Arbeitsplatz. Die Kunstfabrik, wie sich Theas Ateliergemeinschaft nennt, ist eine der letzten Kölner Oasen für freischaffende Künstler. Die Arbeitsräume sind erschwinglich und geräumig, wenn auch nicht unbedingt komfortabel. Es könnte paradiesisch sein, wären sie nicht latent von Grundstücksspekulanten bedroht, die die alte Waschmittelfabrik abreiÃen oder zumindest in schicke, zu ihren Gewerbepark-Fantastereien passende Bürolofts verwandeln wollen, ganz so, als gebe es keine Arbeitslosen und keine leer stehenden Büros in Köln.
Die Frau nimmt Theas Schweigen als Einladung und tritt näher. Schade, dass wir kein Atelier frei haben, denkt Thea, es könnte Spaà machen mit ihr, viel mehr Spaà als mit der eitlen, lauten Nada, von Paul ganz zu schweigen. Wir haben leider kein Atelier frei, will Thea sagen und fragen, ob sie einen Tee kochen soll, denn vielleicht können sie ja trotzdem ein bisschen fachsimpeln, aber die sommersprossige Besucherin ist schneller und beweist mit ihren Worten, dass ein Tag, der unschön angefangen hat, in der Regel auch so weitergeht.
»Krieger, Kriminalpolizei«, sagt sie und nestelt einen Ausweis aus der GesäÃtasche ihrer ausgebleichten Jeans. »Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«
Das Pochen in Theas Bein nimmt zu, während die Kommissarin die unschönen Details eines Mordes erläutert, der quasi direkt vor Theas Atelier geschehen ist. Die Kommissarin geht zum Fenster und späht zur S-Bahn-Strecke, als sie ihre Ausführungen beendet hat.
»Ich war gestern Nacht nicht hier. Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagt Thea zum Rücken der Kommissarin.
»Von nebenan muss der Blick auf den Tatort noch besser sein.« Die Kommissarin dreht sich zu Thea um. »Aber dort scheint im Moment niemand zu sein.«
»Das ist das Atelier meiner Kollegin Nada. Sie ist heute nicht da. Sie schlieÃt immer ab. Das tun wir alle.«
»Wissen Sie, wie ich sie erreichen kann?«
»Versuchen Sieâs auf ihrem Handy.« Thea kritzelt die Nummer auf einen Zettel. »Nada macht es oft aus, aber wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, meldet sie sich.« Manchmal jedenfalls, wenn sie dazu Lust hat und den Anrufer interessant genug findet. Doch das muss Thea der Kommissarin nicht gleich auf die Nase binden. Genauso wenig, wie sie
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