Nacht ohne Schatten
ihr von dem Ersatzschlüssel erzählen muss, den Nada bei Thea deponiert hat. Die Atmosphäre eines Ateliers ist heilig und sehr verletzlich. Auch eine so eitle Person wie Nada hat ein Recht darauf, dass man ihre Privatsphäre respektiert.
* * *
Regen prasselt an die Fenster des Polizeipräsidiums, Regen, der sie durch diesen ersten Ermittlungstag begleitet hat, durch die Nacht davor und durch diesen Winter. Regen, der Spuren verwischt und vielleicht sogar Erinnerungen, jedenfalls vermag Judith einen Moment lang nicht mehr zu sagen, ob es in den zurückliegenden Stunden überhaupt hell geworden ist. Jetzt ist es drauÃen dunkel, so dass sich der kunstlichtgeflutete Besprechungsraum in den Fensterscheiben spiegelt. Der Geruch geschmolzenen Käses hängt in der Luft, die Soko S-Bahn isstlauwarme Pizzastücke direkt aus den Kartons, zu hungrig und zu müde für ein Gespräch. Nach der fruchtlosen Fragerei in den Ateliers hat Judith Pizza für alle in der Pizzeria Rimini gekauft. Der Anblick ihrer Dienstmarke hatte den Wirt sichtlich nervös gemacht. Ein ums andere Mal betonte er, dass sein Laden sauber sei, die Lizenz einwandfrei, dass er spätestens um 24 Uhr schlieÃe und weder davor noch danach irgendetwas Verdächtiges oder auch nur Ungewöhnliches auf der Bahntrasse oder an der Haltestelle Gewerbepark bemerkt habe, die von den Fenstern seiner Pizzeria aus ganz ausgezeichnet zu sehen ist.
Niemand hat etwas gesehen, es gibt kein Motiv und keine Spur, wenn man von dem Hinweis eines angetrunkenen Fahrgasts auf einen Obdachlosen ohne Gesicht einmal absieht. Bergers Vater hat die Nachricht vom Tod seines einzigen Sohns mit der Lethargie des emotional und körperlich Ausgelaugten zur Kenntnis genommen, haben die Kollegen aus Paderborn berichtet. Die Mutter sei dank ihrer Demenz jenseits jeden Verstehens. Erklären kann sich Bergers Vater nicht, wer seinen Sohn genug gehasst haben könnte, um ihn zu töten. Ebenso wenig wie die Kollegen und Nachbarn, die sie bislang befragt haben.
Und auch die Durchsuchung von Bergers Wohnung hat nichts gebracht. Ein Umschlag mit zerknitterten Kindheitsfotos ist das Persönlichste, was sie gefunden haben. Kein Telefon, keinen Anrufbeantworter, kein Adressbuch, keinen Kalender haben sie entdeckt. Nichts, was auf ein Hobby oder irgendeine Art krimineller Verwicklung hindeutet. Die Rechnungen besagen, dass er mit dem Handy kaum telefoniert hat, und wenn doch, dann meistens mit Kollegen. Berger besaà keine Bücher, und sein Musikgeschmack war belanglos: Greatest Hits, Karnevalssampler, Kuschelrock â Sonderangebote, wie die Preisschilder auf den Hüllen verraten. Wer war Wolfgang Berger? Ein Mann, der nichts preisgab von sich und zurückgezogen lebte. Unauffällig, wie man das nennt. Ein Mann, dem trotzdemjemand während der letzten Pause in seiner Spätschicht elfmal ein Messer in den Rücken rammte.
Ralf Meuser, den einige Kollegen hinter seinem Rücken immer noch Anfänger nennen, erbarmt sich und räumt die leeren Pizzakartons beiseite. Die Kriminaltechnikerin Karin Munzinger wirft eine Tüte Gummibärchen auf den Tisch. Die hastig heruntergeschlungene Pizza verklumpt sich in Judiths Magen, fettig und zäh. Während ihrer Auszeit im letzten Jahr hatte sie abgenommen, jetzt sitzen ihre Hosen wieder enger, weil sie es nicht mehr ins Fitnesscenter schafft, weil sich Polizeiarbeit nun einmal nicht mit regelmäÃigen, gesunden Mahlzeiten verträgt. Sie denkt an die sterilen Playboy-Pin-ups in der Wohnung des S-Bahn-Fahrers und an seine Pornofilme. Hechelnde Frauen in immer gleichen Posen: Machâs mir, fick mich, ja, ja, ja. Sie denkt an die unentschlüsselbare Botschaft, die sich auf dem Bahndamm in Bergers Augen spiegelte. Er lag so allein im Regen, wie er gelebt hatte, ein Mann, den sie zu seinen Lebzeiten wohl kaum besonders sympathisch gefunden hätte. Doch ihre Gefühle haben bei diesen Ermittlungen nichts zu suchen, genauso wenig wie die Bilder des letzten Sommers, die irgendwo am Rande ihres Bewusstseins lauern, bereit, sie anzuspringen, sobald sie anfängt sich zu entspannen.
»Showtime, Kollegen!« Manni hat den Beamer zum Leben erweckt. Axel Millstätt, der Kommissariatsleiter, betritt den Konferenzraum und lehnt sich hinter Judith an die Wand. Klaus Munzinger schiebt eine CD mit Fotomaterial aus den Bahn-Ãberwachungskameras in den DVD-Player und schaltet das Licht
Weitere Kostenlose Bücher