Nacht ohne Schatten
als in der Nacht zuvor.
Jetzt weiÃt du, wie es ist.
Eine glatte Lüge.
Im CD-Player liegt noch Patti Smith, die davon singt, dass die Nacht der Liebe gehört. Auch das ist falsch, wenn man die Polizeistatistiken betrachtet, aber Judith dreht sich eine Zigarette und hört trotzdem zu.
* * *
Ekaterina mag den Regen, der hier in Deutschland auch im Winter fällt, denn eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen ist die Kälte. Traniges Fett auf roten Wangen. Vereiste Wimpern. Hart gefrorene Wollhandschuhe. Der Schmerz, wenn sie endlich wieder drinnen war und die dünnen Finger vor dem Ofen aneinanderrieb. Und drauÃen, über allem, der Himmel: hoch, majestätisch still und unerbittlich dunkel, sobald die kalte Sonne hinter den Horizont zurückgesunken war, von dem sie sich nur für Minuten erhoben hatte.
Ekaterina steht auf, sortiert die letzten Mappen zurück in die Hängeregistratur. Die Patientinnenakten aus dem Modellprojekt zur Eindämmung häuslicher Gewalt sind die Hinterlassenschaft ihrer Vorgängerin. Wie besessen hat Ekaterina sich nach der Obduktion durch diese Fälle gelesen und dafür alle anderen Wochenendpläne aufgegeben. Hämatome. Verbrennungen. Kahle blutige Stellen auf der Kopfhaut, wo Haar gleich büschelweise ausgerissen wurde. Jede Pappsammelmappe enthält Leid. Ohne nachzudenken, greift Ekaterina nach der Teekanne, aber die ist fast leer, und die letzten Tropfen sind bitter. Ein Schluck Wodka wäre jetzt gut, Wärme von innen, ein Hauch Vergessen. Doch Unaufmerksamkeit darf sie sich nicht gestatten. Sie zerkaut ein Stück Würfelzucker, eine schlechte Angewohnheit aus Kindertagen, die sie sich heute nur noch in Stresssituationen zugesteht. Eine Akte für die Frau, diesich Ines nennt, ist nicht in der Hängeregistratur, auch unter einem anderen Namen ist sie nicht aufgeführt, jedenfalls hat Ekaterina sie auf keinem der Fotos wiedererkannt. Wer ist diese Frau, die jemand brutal vergewaltigt und beinahe erwürgt hat? Was wollte sie hier? Und warum ist sie so schnell wieder weggerannt?
Es fällt Ekaterina schwer, sich einzugestehen, dass sie am Morgen einen Fehler gemacht hat. Fehler sind gefährlich, sie können sie ihren Job kosten, womöglich die Aufenthaltsgenehmigung, und dort, wo sie herkommt, sogar das Leben. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass diese Ines sich ausweist, bevor sie sie untersucht. Sie hätte sie auf das Blut auf ihrer Unterwäsche ansprechen müssen. Hatte diese Patientin doch innere Verletzungen? Steckt sie jetzt wegen Ekaterinas Nachlässigkeit in medizinischen Schwierigkeiten? Ich hätte auf eine gynäkologische Untersuchung bestehen müssen, denkt Ekaterina. Ganz egal, was die Frau selbst für richtig hielt, ich bin die Ãrztin, ich hätte mich durchsetzen müssen.
Aber das genau ist das Problem. In Fachdiskussionen hat Ekaterina keinerlei Schwierigkeiten, ihren Standpunkt zu vertreten, Obduktionen führt sie mit fast schlafwandlerischer Sicherheit aus. Es liegt auch nicht an der Sprache, ihr Deutsch ist beinahe perfekt. Sie hat sich an den Regen gewöhnt, ans Essen, an funktionierende Heizungen, pünktliche Bahnen und Busse und all den anderen Komfort, den hier alle als gottgegeben hinnehmen. Nur die Deutschen selbst sind ihr fremd geblieben. Und jetzt ist sie die Leiterin eines Projekts, das sie nicht nur zur zartfühlenden Behandlung geschlagener Frauen verpflichtet, sondern ihr auch noch die enge Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen abverlangt, deren Weltanschauung sie nicht nachvollziehen kann.
Ekaterina setzt neues Teewasser auf, zwingt sich zur Ruhe. Die Frau, die sich Ines nannte, hatte diesen dummen Zeitungsartikel dabei, das wirkte nicht so, als käme sie von einer dieser Beratungsstellen oder hätte gar vor, sich dort später über EkaterinasVersäumnisse zu beschweren. Andererseits sprach sie von Ekaterinas Vorgängerin Antje Schmitt-Mergel, als ob sie sie kenne.
Du darfst keine Angst haben, Katjuschka, dann bist du sicher. Wie oft hat ihr die GroÃmutter diesen Satz gesagt. Und ich habe auch keine Angst, denkt Ekaterina. Ich habe keine Angst, ich habe nichts falsch gemacht. Ich bin einfach unsicher, was allein daran liegt, dass ich vor einer neuen Aufgabe stehe und hier in dieser Stadt noch niemanden kenne. Sie gieÃt sich Tee ein, rührt Zucker in ihre Tasse, setzt sich an ihren Schreibtisch und trinkt. Wer ist diese Ines?
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