Nacht ohne Schatten
Was ist ihr geschehen? Wie sie Ekaterina angesehen hat. Panisch. Aber zugleich war noch etwas anderes in ihren schönen, hellgrünen Augen. Etwas Gefährliches.
Ekaterina fährt ihren Computer herunter, spült das Teegeschirr, zieht Mantel und Pelzmütze an, die, wie sie festgestellt hat, auch gegen das Kölner Regenwetter schützt. Sie ist übermüdet nach diesem langen Tag, aufgewühlt, und das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb sie sich im Treppenhaus entschlieÃt, noch einmal in den Kühlkeller zu gehen. Das leise Sirren der Neonröhren ist hier das einzige Geräusch, und wie immer macht die Anwesenheit der Toten Ekaterina ruhiger. Die Klinge, die dem S-Bahn-Fahrer Wolfgang Berger durch den Rücken Herz und Lungen zerfetzt hat, war sehr scharf und sieben bis acht Zentimeter lang. Sie haben jeden Stich akribisch dokumentiert, der Kollege Karl-Heinz Müller nervte zwar mit seinem Gepfeife, doch was seine Fachkompetenz angeht, hat Ekaterina groÃe Hochachtung vor ihm. Es kann also nicht sein, dass sie etwas übersehen haben, und doch ist sie plötzlich nicht mehr zufrieden mit dem Bericht, als ob darin ein Mosaiksteinchen fehle, dessen Bedeutung man erst bemerkt, wenn man es ins Gesamtbild einfügt.
Der S-Bahn-Fahrer liegt in Kühlfach Nummer 18 der Mittelreihe. Ekaterina fährt einen elektrischen Hubwagen vor das Fach, lässt die Stahlwanne mit dem Toten auf die Schienengleiten. Es gelingt ihr nicht, ihn auf den Bauch zu drehen, sie muss sich mit der Seitenlage begnügen. Sie fährt den Hubwagen unter eine Lampe im Obduktionsraum und nimmt die Lupe. Betrachtet die Wunden noch einmal, Zentimeter um Zentimeter. Da sieht sie es: ein leichter, wirklich sehr, sehr leichter Abdruck, quer zum Einstich Nummer fünf, nur wenige Millimeter breit. Er muss nichts bedeuten, kann schon vor der Tat da gewesen, vielleicht sogar erst bei der Obduktion entstanden sein. Oder aber er ist der Hinweis, den sie brauchen, die erste Spur.
Die Hand auf Bergers kalter, nackter Schulter, steht Ekaterina da. Doch auch der Hautkontakt mit dem Toten verrät seine letzten Geheimnisse nicht.
Sonntag, 8. Januar
Sie hört das Telefon wie durch einen Tunnel, mitten in einem traumlosen Schlaf, der aus Erschöpfung geboren ist.
»Krieger, hallo?« Ihre Stimme ist belegt, kaum mehr als ein Flüstern.
»Wir haben eine Brandmeldung an der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark.«
»Feuer? Wo genau?«
»FabrikstraÃe 28 . Pizzeria Rimini.«
»Schickt mir einen Wagen.«
2:35 Uhr, beinahe dieselbe Zeit wie in der Nacht zuvor. Sie knipst die Nachttischlampe an, kämpft sich hoch. Vor zwei Stunden ist sie zu Bett gegangen und hatte gehofft, dass die Nacht ohne Einsatz vergeht. Kühles, glattes Holz unter ihren nackten FüÃen. Schwindel. Auf der unbenutzten Seite ihres Betts liegt noch das Tarotdeck, obenauf die Karte, die sie vor dem Einschlafen gezogen hat. Der Prinz der Kelche, nackt, mit geschlossenen Augen, von einem Adlerwesen gezogen über das Wasser gleitend. Verlangen ist die Interpretation der Karte. Leidenschaft, und das weckt schon wieder die Erinnerung an den letzten Sommer, was sie nun wirklich nicht gebrauchen kann. Judith wirft die Bettdecke über die Karten, stolpert ins Bad. Sie schöpft sich kaltes Wasser ins Gesicht, friert und beginnt dennoch plötzlich zu schwitzen. Ihre Augen sind gerötet, die Haut ist blass, beinahe transparent. Die Sommersprossen stechen scharf hervor. Sie versucht gar nicht erst, ihre Locken zu bändigen.
Jeans, Stiefel, Pulli. Dienstwaffe, Notizbuch, Brieftasche und Handy. Fast wie in Trance wiederholt sie die Handgriffeder vorigen Nacht. Der Pizzeriabesitzer war nervös. Der Tatort ist von der Gaststätte aus hervorragend zu sehen. Es kann kein Zufall sein, dass die Pizzeria brennt. Worin aber besteht der Zusammenhang? Das ist die Frage, die sie beantworten muss, wenn sie diese Ermittlungen leitet.
Flackerndes Blaulicht empfängt Judith an der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark: Notarzt, Polizei und Löschzüge der Feuerwehr. Anwohner lehnen aus ihren Fenstern und drängeln sich leicht bekleidet an der Polizeiabsperrung, entschlossen, keinen Moment des Katastrophenszenarios vor ihrer Haustür zu verpassen. Auch die ersten Pressevertreter treffen ein, schreien Judiths Namen, rangeln um ihre Aufmerksamkeit. Judith schüttelt den Kopf, duckt sich unter dem Absperrband durch. BeiÃender
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