Nacht über Algier
zwitschern ein paar Vögel.
Nedjma öffnet mir, bevor ich die Klingel überhaupt angetippt habe. Geduscht, geschminkt, frisiert - sie sieht nicht so aus, als würde sie Trauer tragen. In ihrem Neglige, umhüllt von feinsten Düften, erinnert sie an eine märchenhafte Fee. Ich erinnere mich nicht, jemals eine so vollendete Schönheit gesehen zu haben. Der Glanz ihrer fünfundzwanzig Jahre strahlt wie ein Diadem. Alles an ihr scheint vollkommen: ihre reinen Züge, ihr klarer Blick und ihr wohlgeformter Körper.
»Wie geht's?« frage ich sie.
»Die Frage habe ich mir noch nicht gestellt, Kommissar.«
Sie bittet mich, ihr ins Haus zu folgen. Lino wäre ihr bis in die Hölle gefolgt. Wenn diese Frau vor dir hergeht, dann stellt sie den Rest der Welt in den Schatten und ihre Fallgruben und Fußangeln zuallererst. Ich versuche einen kühlen Kopf zu bewahren, aber ich kann unmöglich meine Augen von dem fesselnden Tanz ihrer Hüften abwenden.
Ich suche die Gorillas oder wenigstens einen Lakai, der auf der Lauer nach einem Befehl oder einem Zeichen liegt; doch keine Menschenseele weit und breit.
»Sind Sie allein?«
»Ja.«
»Wo ist die Leibgarde hin?«
»Haj hat sie gestern alle entlassen.«
Wir betreten den Palast. Ein solcher Prunk würde selbst die Götter auf ihrem Kometenschweif vor Neid erblassen lassen. Unglaublich, was manche Menschen in ihrem kurzen Leben so alles zusammenschaufeln. Aber noch unglaublicher ist es, daß sie nach soviel blasphemischer Großmannssucht und soviel angehäuftem Besitz letztlich in Kauf nehmen, für alle Ewigkeit in einem tiefen schwarzen Loch zu vermodern.
Nedjma führt mich direkt in das private Refugium ihres Geliebten. Umgeben von seinen Schätzen in Mahagoni, seinen Nippes aus Kristall und seinen Gemälden, sitzt Haj Thobane zusammengesunken im Hausmantel auf einem mächtigen Polsterstuhl. Sein Oberkörper ruht leblos auf dem Schreibtisch. Der rechte Arm liegt angewinkelt daneben auf einer Zeitung, die Hand umschließt eine gewaltige Pistole. Die Kugel hat ihm die Schläfe zerschmettert und den halben Schädel weggerissen.
Ich trete näher an ihn heran.
Die Zeitung ist auf einer Doppelseite aufgeschlagen, die ausschließlich über das Massengrab von Sidi Ba berichtet.
»Ich glaube, daß ihm die Lektüre dieses Artikels den Rest gegeben hat«, seufzt Nedjma.
»Sieht so aus«, stelle ich fest. »Können Sie mir erzählen, was geschehen ist?«
»Ich bin von einem Schuß aus dem Schlaf gerissen worden. Gleich darauf bin ich losgerannt und habe ihn so vorgefunden, wie Sie ihn jetzt sehen. Ich habe nichts angerührt.«
»Und das Personal?«
»Das sagte ich Ihnen doch schon. Haj hat sie gestern allesamt rausgeschmissen. Er wollte allein sein. Auch mich hatte er gebeten zu gehen. Ich habe mich allerdings geweigert, ihn in seinem Zustand allein zu lassen.«
»Wie war er denn?«
»Seltsam.«
»Das heißt?«
»Als sie anfingen, ihn im Fernsehen fertigzumachen, hat er sich nicht gerührt. Und nichts gesagt. Er wollte lediglich ein Glas Wasser haben. So friedlich, wie er da in seinem Sessel saß, konnte man meinen, er sehe sich etwas völlig Belangloses an. Selbstverständlich ist ihm kein einziges Wort von dem entgangen, was sie in den Nachrichten von sich gegeben haben. Aber es war, als fielen sie über jemand anderen her, jemanden, den er nicht kannte. Danach hat er den Fernseher ausgeschaltet und das gesamte Dienstpersonal aufgefordert, nach Hause zu gehen. Er war ganz ruhig, als er auf mich zukam, mich auf die Stirn küßte und sagte, ich solle meine Sachen packen. Ich wollte nicht, und er hat nicht weiter darauf bestanden. Schließlich rief er Sie an, und als er aufgelegt hatte, schloß er sich in sein Büro ein. Ich wollte jedoch bei ihm bleiben und ihn aufmuntern. Er stand an der Fenstertür, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und starrte den Mond an. Ich glaube, er wartete darauf, daß ihn seine Freunde anrufen würden. Er drehte sich immer wieder zum Telefon um und betrachtete es gedankenverloren. Da niemand anrief, griff er irgendwann selbst zum Hörer, um das Amtszeichen zu überprüfen, legte wieder auf und lächelte mich an. Das traurigste Lächeln, das ich jemals in meinem Leben gesehen habe! Ich war erschüttert. Dann nahm er mich in den Arm. Er empfand mehr Kummer wegen seiner Freunde als Wut auf diejenigen, die sich gegen ihn verschworen hatten ... Sie wissen ja, wie das in unserem Land läuft. Man verehrt jemanden so lange, bis man seinen wunden Punkt
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