Nacht über Algier
Ausgangssperre. Mina und die Kinder kommen zu mir ins Wohnzimmer, sie sind genauso gespannt wie ich. Ich habe ihnen nichts gesagt, aber meine fiebrige Unruhe hat sie hellhörig gemacht. Nur mein Benjamin hört nicht auf, in seinem Zimmer herumzupesten, er ist wie immer auf Kriegsfuß mit seinen Hausaufgaben.
»Massengrab in Sidi Ba entdeckt: siebenundzwanzig Leichen exhumiert, darunter fünfzehn Kinderskelette.«
Sorias Beitrag ist der Aufmacher. Die Bilder zeigen, wie ein Bagger die Erde umwühlt, Männer menschliche Gebeine ausgraben und wie Augenzeugen ihre Version der Ereignisse schildern - es ist immer dieselbe, auswendig gelernte. Panoramablick über die Berge von Sidi Ba, Zoom auf die Stadt, unterlegt mit einem niederschmetternden Kommentar. Archivbilder versetzen den Zuschauer in die Kriegsjahre zurück: im Schnee marschierende Mudjaheddin-Kolonnen, Kampfflugzeuge der französischen Armee, die ihr Napalm auf muslimische Dörfer abwerfen, verbrannte Gesichter, Bauern, die aus ihren verwüsteten Weilern fliehen, zwischen ihren Bündeln auf behelfsmäßigen Karren zusammengepferchte Frauen und Kinder und dann wieder das Massengrab, an dem ein am ganzen Leib zitternder Zeitzeuge Dramatisches berichtet. Dann füllt eine Großaufnahme von Haj Thobane den Bildschirm. Es folgen Bilder, die den berühmten Linkshänder zeigen, wie er stolz ein vom Feind aus dem Hinterhalt erobertes Funkgerät vorführt, wie er sein Bataillon abschreitet oder wie er mit seinem MG ein Ziel anvisiert . Um mich herum herrscht sprachlose Stille. Meine beiden Großen und meine Tochter sind wie versteinert. Mina schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, Tränen in den Augen. Die Geräusche der Nachbarwohnung sind verstummt, normalerweise überschlagen sich die Anpfiffe und das Getobe der Gören um diese Zeit. Das ganze Haus, nein, das ganze Land, hält den Atem an.
»Papa!« brüllt mein Jüngster aus seinem Zimmer. »Wie soll ich meine Aufgaben erledigen bei diesem Krach? Seit einer Stunde klingelt das Telefon.«
Ich habe das Gefühl, aus einem Abgrund aufzusteigen, ich brauche eine Weile, bis ich das Geschrei meines Sohns begreife. Endlich erreicht mich das Klingeln. Ich laufe zum Telefon, nehme den Hörer ab. Es ist Haj Thobane.
»Idiot«, sagt er mit außergewöhnlich ruhiger Stimme. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Sagen Sie Ihren Auftraggebern, daß man das Fell des Bären nicht verkaufen soll, bevor man ihn getötet hat.«
Er legt auf.
Völlig perplex starre ich auf den Hörer in meiner Hand. Minutenlang bleibe ich so stehen, bis Mina hereinkommt und ich endlich auflege.
Morgens um 5 Uhr 45 klingelt das Telefon wieder. Es ist Nedjma, die Freundin von Haj Thobane.
»Kommen Sie schnell«, schluchzt sie. »Es ist ein Unglück geschehen.«
Teil III
Sterben ist der schlimmste Dienst, den man einer guten Sache erweisen kann. Denn über allen Trümmern und Opfern tummeln sich unweigerlich irgendwelche Aasgeier, die listig genug sind, sich als Phönix auszugeben. Und die werden nicht eine Sekunde zögern, mit der Asche der Märtyrer ihre privaten Paradiesgärten zu düngen, die Grabsteine der Gefallenen in Monumente für sich selbst zu verwandeln und die Tränen der Witwen auf ihre Mühlen umzuleiten.
Brahim Llob
21
Der Tag reckt sich nur zögernd im Chemin des Lilas. Die Nacht muß hier sehr turbulent gewesen sein. Verständlich, wenn der Nachbar gelyncht wird, läßt der Volkszorn nicht lange auf sich warten. Ich kann mir vorstellen, was für ein Schock das für die Geldsäcke von Algier gewesen sein muß, gestern abend vor der Mattscheibe. Doch nicht der Skandal um Haj Thobane wird ihnen in die Knochen gefahren sein, sondern die Erkenntnis, daß, wenn es gelingt, einer lebenden Legende das Genick zu brechen, sich kein Lokalmatador mehr in Sicherheit wiegen kann.
Bald wird die Sonne ihre Fackel auf das ganze Ausmaß des Schadens richten. Man darf mit Spannung erwarten, was für Sauereien noch ans Tageslicht kommen.
Ich parke meinen Zastava vor der Hausnummer sieben. Die Stille hat etwas Unwiederbringliches. Es ist ein bißchen so, als stünde man mitten auf einem Minenfeld. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Nachdem ich meinen Zigarettenstummel im Aschenbecher ausgedrückt habe, steige ich aus und knalle die Tür meiner alten Schrottkarre kräftig zu, um mich in Schwung zu bringen. Ich bin hellwach. Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Der Tag wird schön. Versteckt hinter den Blättern,
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