Nacht über den Wassern
Mann.
Margaret fragte sich, was er tun würde, wenn sie sich einfach hinsetzte und sich weigerte zu gehen. Sie fühlte sich hundemüde und schwach von der Nervenanspannung. Aber sie hatte so viel durchgemacht, daß sie keine Kraft mehr fand, sich zu widersetzen. Außerdem war es spät, und sie war allein mit diesem Kerl, da konnte man nie wissen, was er tun würde, wenn sie ihm einen Vorwand gab, Hand an sie zu legen.
Müde drehte sie ihm den Rücken zu und kehrte bitter enttäuscht in die Finsternis zurück.
Schon während sie vom Hotel wegstapfte, wünschte sie sich, sie hätte mehr Widerstandsgeist bewiesen. Wie kam es nur, daß sie nicht so energisch handeln wie denken konnte. Nun, da sie nachgegeben hatte, war sie zornig genug, es dem Portier zu zeigen. Fast hätte sie kehrtgemacht. Doch dann ging sie doch weiter: Es erschien ihr einfacher.
Sie wußte nicht, wohin. Catherines Haus würde sie bestimmt nicht mehr finden; Tante Marthas Haus hatte sie nicht gefunden; anderen Verwandten konnte sie nicht trauen, und sie war zu abgerissen, um ein Hotelzimmer zu bekommen.
Es blieb ihr deshalb nichts anderes übrig, als umherzuirren, bis es hell wurde. Glücklicherweise war das Wetter angenehm, es regnete nicht, und die Nachtluft war zwar kühl, aber erträglich. Wenn sie in Bewegung blieb, würde sie nicht frieren. Jetzt konnte sie wenigstens einigermaßen erkennen, wo sie war: Im West End herrschte etwas mehr Verkehr. Aus Nachtlokalen ertönte Musik und Stimmengewirr, und hin und wieder sah sie Leute ihrer Gesellschaftsschicht: Damen in eleganter Abendtoilette und Herren im Smoking mit weißer Fliege, die von einer Party kommend von ihrem Chauffeur bis direkt vor den Eingang ihres Hauses gefahren wurden. In einer Straße bemerkte sie drei aufgedonnerte Frauen, die seltsamerweise ohne Begleitung waren: Eine stand vor einer Tür, eine lehnte sich an eine Laterne, und eine saß in einem Wagen. Alle drei rauchten und warteten offensichtlich auf jemanden. Ob das wohl »gefallene Mädchen« waren, wie Mutter es immer nannte?
Margaret war ziemlich erschöpft. Immer noch trug sie die leichten Schuhe, die sie im Haus angehabt hatte, als sie weggelaufen war. Ohne zu überlegen, setzte sie sich auf eine Eingangsstufe und rieb die schmerzenden Füße.
Als sie aufblickte, stellte sie fest, daß sie die Umrisse der Häuser auf der anderen Straßenseite erkennen konnte. Wurde es endlich hell? Vielleicht konnte sie eine Imbißstube finden, die schon aufhatte. Sie würde sich Frühstück bestellen und dort warten, bis die Rekrutierungsstellen öffneten. Sie hatte seit zwei Tagen kaum etwas gegessen, und der Gedanke an Eier mit Speck machte ihr den Mund wässerig.
Plötzlich tauchte ein weißes Gesicht vor ihr auf. Erschrocken schrie sie auf. Das Gesicht kam näher, und sie sah einen jungen Mann im Abendanzug. »Hallo, Süße«, lallte er.
Hastig stand sie auf. Sie konnte Betrunkene nicht ausstehen, sie waren so – würdelos. »Bitte gehen Sie weg!« Sie bemühte sich, entschieden zu klingen, aber ihre Stimme zitterte.
Er torkelte näher heran. »Küß mich wenigstens.«
»Was bilden Sie sich ein!« rief sie entrüstet. Sie wich einen Schritt zurück, stolperte und ließ die Schuhe fallen. Ohne Schuhe fühlte sie sich hilflos und verwundbar. Sie drehte sich um und bückte sich, um nach ihnen zu tasten. Er lachte lüstern, und zu ihrem Entsetzen spürte sie plötzlich seine Hand mit schmerzhafter Plumpheit zwischen ihren Schenkeln. Sofort richtete sie sich ohne ihre Schuhe auf und machte hastig einen Schritt zur Seite. Dann drehte sie sich zu ihm um und schrie: »Lassen Sie mich in Ruhe!«
Er lachte. »So ist‘s recht, mach nur so weiter, ich hab‘s gern ein bißchen kratzbürstig.« Mit überraschender Wendigkeit faßte er sie bei den Schultern und zog sie an sich. Sein Alkoholatem war wie eine betäubende Nebelschwade, und plötzlich küßte er ihren Mund.
Es war unbeschreiblich ekelhaft, und ihr wurde regelrecht übel, aber er drückte sie so heftig an sich, daß sie kaum atmen, geschweige denn protestieren konnte. Sie wand sich verzweifelt, aber er hörte nicht auf, sie zu küssen. Dann nahm er eine Hand von ihrer Schulter und legte sie auf ihre Brust. So hart quetschte er sie, daß Margaret vor Schmerz keuchte. Doch da er ihre Schulter losgelassen hatte, konnte sie sich ein bißchen von ihm wegkrümmen und schrie, so laut sie konnte.
Wie von weit her hörte sie ihn besorgt sagen: »Schon gut, schon gut, führ dich
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