Nacht über den Wassern
zumindest aber mit ihrer Mutter, auszufechten gehabt. Ma wollte immer, daß sie einen Jungen aus einer alteingesessenen Bostoner Familie heiratete, doch Nancy hatte sich schon mit sechzehn Jahren in Sean Lenehan verliebt, einen Medizinstudenten, dessen Vater tatsächlich Vorarbeiter in Pa‘s eigener Fabrik war! Wie entsetzlich! Monatelang zog Ma über Sean her, kolportierte bösartige Gerüchte über ihn und andere Mädchen, düpierte seine Eltern aufs Ärgste und wurde schließlich krank und bettlägerig. Von ihrem Krankenlager erhob sie sich nur, um ihrer selbstsüchtigen, undankbaren Tochter Strafpredigten zu halten. Nancy hatte unter Ma‘s Vorwürfen gelitten, war aber keinen Zentimeter von ihrem Standpunkt abgewichen. Sie hatte Sean geheiratet und ihn bis zu seinem Tod sehr geliebt.
Gut möglich, daß Margaret nicht so stark ist wie ich, dachte sie. Vielleicht war es ein bißchen hart, ihr klipp und klar zu sagen, daß sie weggehen soll, wenn sie mit ihrem Vater nicht auskommt. Aber irgendwie scheint sie jemanden zu brauchen, der ihr sagt, daß sie jetzt mit der Jammerei aufhören und erwachsen werden muß. Als ich so alt war wie sie, hatte ich schon zwei Kinder!
Sie hatte ihre praktische Hilfe angeboten und ein paar realistische Ratschläge gegeben. Nun kam es nur darauf an, daß sie ihr Versprechen, Margaret eine Stelle anzubieten, auch erfüllen konnte.
Alles hing jetzt ab von Danny Riley, diesem alten Taugenichts, der im Kampf mit ihrem Bruder das Zünglein an der Waage war. Wieder kamen Nancy Bedenken, und einmal mehr grübelte sie über die anstehenden Probleme nach. Ob Mac, ihr Anwalt, Danny wohl erreicht hatte? Und wenn ja, wie hatte Danny die Nachricht über die Untersuchung einer krummen Tour aus seiner Vergangenheit aufgenommen? Ob er darauf kam, daß die ganze Sache nur ausgeheckt worden war, um ihn unter Druck zu setzen? Oder hatte ihn blinde Panik ergriffen? Nancy warf sich unruhig im Bett hin und her; sämtliche unbeantwortete Fragen gingen ihr durch den Kopf. Hoffentlich kann ich Mac bei der nächsten Zwischenlandung in Botwood auf Neufundland telefonisch erreichen, dachte sie. Vielleicht kann er mich von dieser unerträglichen Anspannung befreien…
Das Flugzeug rüttelte und schlingerte schon seit einer ganzen Weile und machte Nancy nur noch unruhiger und nervöser, als sie ohnehin schon war. Nach ein oder zwei Stunden wurden die Turbulenzen noch schlimmer. Nancy hatte noch nie Angst vorm Fliegen gehabt, war aber auch noch nie in einen solchen Sturm geraten. Die mächtige Maschine schien zum Spielball der Böen geworden zu sein.
Nancy fürchtete sich und klammerte sich an den Kanten ihrer Koje fest. Seit dem Tode ihres Mannes hatte sie eine ganze Menge allein durchgestanden. Sei kein Angsthase, sagte sie sich auch jetzt. Reiß dich am Riemen … Aber gegen die Vorstellung, daß die Flügel abbrechen oder die Motoren ausfallen und sie mit Mann und Maus kopfüber in die See stürzen könnten, kam sie einfach nicht an. Panische Angst ergriff sie. Sie kniff ihre Augen fest zusammen und biß in ihr Kopfkissen. Urplötzlich schien das Flugzeug in freien Fall überzugehen. Sie wartete darauf, daß es aufhörte, aber die Maschine fiel und fiel und flel, und Nancy entfuhr vor Entsetzen ein wimmernder Schrei. Dann gab es einen heftigen Ruck, und die Maschine schien sich wieder zu fangen.
Einen Augenblick später spürte Nancy Mervyns Hand auf ihrer Schulter. »Das ist nur der Sturm«, sagte er in seinem gleichmütigen britischen Akzent. »Ich hab‘ schon Schlimmeres erlebt. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie dankbar. Er setzte sich auf ihre Bettkante und streichelte ihr über das Haar. Die Maschine flog jetzt wieder ruhiger. Nancy fürchtete sich nach wie vor, aber das Händchenhalten half ihr über die schlimmste Angst hinweg. Bald fühlte sie sich ein wenig besser.
Sie wußte nicht, wie lange sie so verharrt hatten. Der Sturm ließ allmählich nach. Auf einmal fühlte sie sich ein wenig befangen und ließ Mervyns Hand los. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, aber Gott sei Dank erhob er sich und verließ den Raum.
Nancy knipste das Licht an, stand schwankend auf, zog ihren Morgenrock aus blauer Seide über das schwarze Neglige und setzte sich an die Frisierkommode. Sie bürstete sich das Haar – eine Tätigkeit, die sie immer beruhigte. Nun war es ihr peinlich, daß sie seine Hand gehalten hatte. Sie hatte jegliche Anstandsformen vergessen und
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