Nacht über den Wassern
gesehen habe, bin ich mir gar nicht mehr so sicher.« Mervyn schwieg einen Moment lang nachdenklich und wechselte dann das Thema. »Und Sie? Werden Sie es schaffen, sich gegen Ihren Bruder durchzusetzen?«
»Ich glaube, ich habe seinen schwachen Punkt gefunden«, erwiderte Nancy mit grimmiger Befriedigung und dachte dabei an Danny Riley. »Ich arbeite daran.«
Er grinste. »Wenn ich Sie so sehe, dann möchte ich Sie lieber zur Freundin als zur Feindin haben.«
»Ich tue es für meinen Vater«, sagte Nancy. »Ich habe ihn aus ganzem Herzen geliebt, und die Firma ist alles, was ich von ihm habe. Sie ist sein Denkmal – und mehr noch: Sie ist durch und durch von ihm und seiner Persönlichkeit geprägt.«
»Was war er für ein Mensch?«
»Er war einer jener Männer, die man nie vergißt, groß, dunkelhaarig, stimmgewaltig – ein Mann, dessen Stärke einem bei der ersten Begegnung sofort bewußt wird. Aber er kannte jeden einzelnen seiner Arbeiter mit Namen, wußte, wessen Frau krank war und wie die Kinder in der Schule zurechtkamen. Er zahlte den Söhnen unzähliger Fabrikarbeiter die Ausbildung – inzwischen sind sie Rechtsanwälte oder Steuerberater. Er wußte, wie man die Leute bei der Stange hielt. In dieser Hinsicht war er sehr altmodisch, eine Art Patriarch. Auf der anderen Seite ist mir nie ein brillanterer Geschäftsmann begegnet. In der tiefsten Rezession, als überall in den Neu-England-Staaten die Fabriken schlossen, stellten wir zusätzlich Leute ein, weil unser Absatz stieg! Vater erkannte als erster in der Schuhindustrie die Bedeutung der Werbung, und er setzte sie genial ein. Er interessierte sich für Psychologie und für die Beweggründe der Menschen. Er fand für jedes Problem neue, ungewöhnliche Lösungen, egal, um was es ging. Ich vermisse ihn jeden Tag. Ich vermisse ihn fast ebenso sehr wie meinen Mann.« Sie merkte, daß sie wütend wurde. »Und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie sein Lebenswerk von meinem nichtsnutzigen Bruder verscherbelt wird.« Beim Gedanken an ihre Sorgen und Ängste rutschte sie nervös auf ihrem Sitz herum. »Ich versuche, Druck auf einen der Hauptaktionäre auszuüben, aber ob es mir gelingt, werde ich erst erfahren, wenn …«
Sie beendete den Satz nicht. Das Flugzeug geriet in die bisher schwerste Turbulenz und bockte wie ein Wildpferd. Nancy ließ ihr Glas fallen und griff mit beiden Händen nach dem Rand der Frisierkommode. Mervyn versuchte vergeblich, sich mit den Füßen abzustützen, und als die Maschine unvermittelt in Schräglage geriet, kugelte er über den Fußboden und stieß dabei das Beistelltischchen zur Seite.
Das Flugzeug fand sein Gleichgewicht wieder. Nancy streckte ihre Hand aus, um Mervyn aufzuhelfen, und fragte: »Haben Sie sich verletzt?« Die Maschine schlingerte erneut. Nancy rutschte aus, verlor den Halt und fiel auf Mervyn.
Einen Augenblick später brach er in Gelächter aus.
Sie hätte schon befürchtet, ihm weh getan zu haben, aber sie war leicht und er ein großer, starker Mann. Sie lag quer über ihm, so daß sie gemeinsam ein großes X auf dem ziegelroten Teppich bildeten. Die Maschine richtete sich wieder aus. Nancy glitt von Mervyn herunter, setzte sich auf und schaute ihn an. War Mervyn hysterisch – oder fand er das alles nur komisch?
»Wir müssen ganz schön blöd aussehen«, meinte er und fing wieder an zu lachen.
Sein Lachen war ansteckend. Für ein paar Augenblicke vergaß Nancy die Anspannung der letzten vierundzwanzig Stunden – den Verrat ihres Bruders, den Beinahe-Unfall in Mervyns kleiner Maschine, die peinliche Konstellation in der Honeymoon Suite, die scheußliche Aggression gegen die Juden beim Abendessen, den unangenehmen Zwischenfall mit Mervyns wütender Frau sowie ihre eigene Angst vor dem Sturm. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihre gegenwärtige Lage – im Nachtgewand mit einem fremden Mann auf dem Boden eines schlingernden Flugzeugs zu sitzen – einer gewissen Komik nicht entbehrte. Sie fing ebenfalls an zu kichern.
Das nächste Schlingern der Maschine warf sie wieder gegeneinander. Noch immer lachend, fand sie sich in Mervyns Armen wieder. Sie sahen sich an.
Und plötzlich küßte sie ihn.
Nancy war völlig überrascht über sich selbst. Nicht im Traum hatte sie bisher daran gedacht, ihn zu küssen, ja, sie wußte noch nicht einmal, was sie eigentlich von ihm halten sollte. Der Kuß schien einer plötzlichen Eingebung entsprungen zu sein, wie aus dem Nichts.
Mervyn war im ersten Moment
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