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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Ihren Rasierer borgen. Haben Sie herzlichen Dank.«
    Mickey Finn hielt ihm die Tür auf. Harry betrat das Flugdeck und ging die Treppe hinunter. So ein Pech, dachte er grimmig. Ein paar Sekunden noch und ich wäre am Ziel gewesen. Ob sich noch einmal eine solche Gelegenheit bietet, steht in den Sternen.
    Mickey verschwand im Abteil eins und kam kurz darauf mit dem Rasierapparat, einer neuen, noch in Papier gewickelten Klinge und einem Behälter mit Rasierseife zurück. Harry nahm ihm die Utensilien ab und bedankte sich. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu rasieren.
    Er nahm seine Reisetasche mit in den Waschraum und war in Gedanken immer noch bei den Rubinen aus Burma. Carl Hartmann, der Wissenschaftler, stand im Unterhemd vor dem Spiegel und wusch sich. Harry ließ sein eigenes, völlig ausreichendes Rasierzeug in der Tasche und rasierte sich geschwind mit Mickeys Rasierer. »Ziemlich schlimme Nacht«, sagte er im Plauderton.
    Hartmann zuckte mit den Achseln. »Hab‘ schon Schlimmeres erlebt.«
    Harry betrachtete die knochigen Schultern. Der Mann war ein wandelndes Skelett. »Das glaube ich Ihnen gerne«, sagte er.
    Damit war die Unterhaltung auch schon beendet. Hartmann war nicht besonders redselig, und Harry hatte anderes im Kopf.
    Nach der Rasur packte er ein neues blaues Hemd aus: Ein neues Hemd zu entfalten gehörte zu den kleinen, aber feinen Annehmlichkeiten des Lebens. Er liebte das Rascheln des Seidenpapiers und das frische Gefühl der noch ganz reinen Baumwolle. Genießerisch streifte er sich das Hemd über und band seine weinrote Krawatte zu einem tadellosen Knoten.
    Bei der Rückkehr ins Abteil fiel ihm sofort auf, daß Margarets Vorhänge nach wie vor geschlossen waren. Er vermutete, daß sie immer noch schlief. Er dachte an ihr wunderschönes Haar, das über das weiße Kissen flutete, und lächelte stillvergnügt vor sich hin. Ein Blick in den Salon verriet ihm, daß die Stewards ein Frühstücksbuffet aufbauten. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen: Schüsseln voller Erdbeeren, Krüge mit Sahne und Orangensaft und kalter Champagner in beschlagenen Sektkühlern. Das müssen Treibhauserdbeeren sein, dachte er. Um diese Jahreszeit!
    Er verstaute seine Reisetasche und ging mit Mickey Finns Rasierzeug in der Hand die Treppe zum Flugdeck hinauf, um sein Glück noch einmal zu versuchen.
    Mickey war nirgends zu sehen, doch saß zu Harrys Bestürzung ein anderes Mitglied der Crew vor einem großen Kartentisch und kritzelte irgendwelche Zahlen auf einen Notizblock. Der Mann sah auf, lächelte und sagte: »Hallo! Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    »Ich suche Mickey, um ihm sein Rasierzeug zurückzugeben.«
    »Sie finden ihn im ersten Abteil, das ist ganz vorne.«
    »Danke.« Harry zögerte. Irgendwie mußte er an diesem Kerl vorbei – aber wie?
    »Sonst noch was?« fragte der Mann freundlich.
    »Dieses Flugdeck ist wirklich sagenhaft«, meinte Harry. »Sieht aus wie ein Büro.«
    »Ja, das stimmt, unglaublich.«
    »Fliegen Sie diese Maschinen gerne?«
    »Mit Leib und Seele. Hm, wissen Sie, ich würde mich ja gerne mit Ihnen unterhalten, aber ich muß vor dem Start diese Berechnungen noch fertigmachen und bin sowieso schon ziemlich knapp dran.«
    Harrys Mut schwand: Der Zugang zum Laderaum war blockiert, und ihm fiel keine Ausrede ein, mit der er sich hätte Zugang verschaffen können. Er zwang sich erneut, seine Enttäuschung zu verbergen, und sagte: »Oh, entschuldigen Sie. Ich bin schon fort …«
    »Normalerweise unterhalten wir uns gerne mit den Passagieren. Man trifft die interessantesten Leute, aber im Augenblick …«
    »Das macht doch nichts.« Harry überlegte fieberhaft, ob sich der Abschied nicht doch noch ein wenig verzögern ließe, gab aber schließlich auf, drehte sich um und ging, lautlos vor sich hin fluchend, die Treppe hinunter.
    Sein Glück schien ihn verlassen zu haben.
    Er gab Mickey das Rasierzeug zurück und suchte wieder sein Abteil auf. Margaret hatte sich noch immer nicht gerührt. Harry durchquerte den Salon, trat auf den Seeflügel hinaus und atmete die kalte, feuchte Luft. Ich lass‘ mir die beste Gelegenheit meines Lebens durch die Lappen gehen, dachte er wütend. Es juckte ihn in den Fingern, als er daran dachte, daß die phantastischen Juwelen nur ein, zwei Meter oberhalb seines Kopfes lagen. Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen, sagte er sich. Es gibt ja noch eine Zwischenlandung in Shediac. Das ist dann meine letzte Chance, ein Vermögen zu stehlen.

5.

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