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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Morgens nach dem Fest.
    Harry ging nach vorne und stieg die Treppe hinauf. Wie gewöhnlich hatte er keinen genauen Schlachtplan und keine Ausreden im Kopf. Er hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie er sich verhalten würde, falls man ihn erwischte. Seiner Erfahrung nach führten detaillierte Pläne und die Grübelei über all das, was unter Umständen schiefgehen konnte, nur dazu, daß die Bedenken überhandnahmen. Schon jetzt, beim Improvisieren, blieb ihm plötzlich vor lauter Anspannung die Luft weg. Ruhig Blut, sagte er sich, du hast so etwas doch schon hundertmal gemacht. Wenn‘s schiefgeht, mußt du dir eben etwas einfallen lassen – wie immer…
    Er erreichte das Flugdeck und blickte sich um.
    Er hatte Glück, es war niemand da. Er atmete ruhiger. Schwein muß man eben haben, dachte er.
    Unterhalb der Windschutzscheibe zwischen den beiden Pilotensitzen stand eine Luke offen. Er sah hinein und blickte in die gähnende Leere des Bugs. Im Rumpf stand eine Tür offen, ein junger Mann, der zur Crew gehörte, hantierte dort mit einem Seil herum. Das war weniger gut. Hastig zog Harry den Kopf zurück, um nicht gesehen zu werden.
    Er eilte quer durch die Kabine und verließ sie durch die Hintertür. Nun befand er sich zwischen den beiden Frachträumen unterhalb der Ladeluke, die auch die Aussichtskuppel des Navigators enthielt. Harry entschied sich für die linke Seite, trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Nun war er außer Sichtweite. Die Besatzung, dachte er, hat sicher keine Veranlassung, in den Laderaum zu kommen.
    Ihm war, als hätte er ein Geschäft für exklusive Reiseartikel betreten. Ringsum waren die teuersten Lederkoffer gestapelt und mit Tauen an den Wänden festgezurrt. Es galt, möglichst schnell das Gepäck der Oxenfords zu finden. Er machte sich an die Arbeit.
    Einfach war es nicht. Etliche Koffer waren so gestapelt, daß sich die Namensschilder auf der Unterseite befanden. In anderen Fällen waren sie durch schwere Gepäckstücke verdeckt, die sich nur mühsam verrücken ließen. Hinzu kam, daß der Laderaum nicht beheizt war und er in seinem Bademantel erbärmlich fror. Mit zitternden Händen und schmerzenden Fingern knüpfte er die Seile auf, die das Gepäck während des Fluges daran hinderte, kreuz und quer durch den Raum zu kullern. Er arbeitete sich systematisch vor, um kein Stück auszulassen oder doppelt zu kontrollieren. Danach befestigte er die Taue wieder, so gut es eben ging. Die Namen waren international: Ridgeway, d‘Annunzio, Lo, Hartmann, Basarow – aber keine Oxenfords. Nach zwanzig Minuten hatte er alle Gepäckstücke überprüft, zitterte wie Espenlaub und war um die Erkenntnis reicher, daß sich die gesuchten Koffer im anderen Laderaum befinden mußten. Er fluchte verhalten. Nachdem er das letzte Seil wieder verknotet hatte, sah er sich sorgfältig um: Seine Visite hatte keine Spuren hinterlassen.
    Nun mußte er die Prozedur im zweiten Frachtraum wiederholen. Er öffnete die Tür, und eine erschrockene Stimme rief: »Verflucht! Wer sind denn Sie?« Es war der Offizier Mickey, den er im Bug gesehen hatte, ein fröhlicher, sommersprossiger junger Mann im kurzärmeligen Hemd.
    Harry war nicht weniger erschrocken, gewann aber schnell seine Fassung wieder. Er lächelte, zog die Tür hinter sich zu und sagte ruhig: »Harry Vandenpost. Und Sie?«
    »Mickey Finn, der Zweite Ingenieur. Sir, der Zutritt zu den Laderäumen ist verboten. Sie haben mir einen ganz schönen Schreck eingejagt. Entschuldigen Sie, daß ich geflucht habe. Was treiben Sie denn hier?«
    »Ich suche meinen Koffer«, sagte Harry. »Ich habe meinen Rasierapparat vergessen.«
    »Sir, der Zutritt zum aufgegebenen Gepäck ist während der Reise untersagt – komme, was wolle.«
    »Ich glaube nicht, daß ich viel Schaden anrichten könnte.«
    »Wie dem auch sei – es tut mir leid, aber es ist nicht möglich. Ich könnte Ihnen meinen Rasierapparat leihen.«
    »Vielen Dank, aber ich hätte doch lieber meinen eigenen. Wenn ich nur meinen Koffer finden könnte …«
    »Mann, o Mann, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Sir, aber es geht wirklich nicht. Wenn der Captain wieder an Bord kommt, können Sie ihn ja fragen, aber ich weiß, daß er Ihnen die gleiche Auskunft geben wird.«
    Harry begriff zerknirscht, daß er sich, zumindest für den Augenblick, mit seiner Niederlage abfinden mußte. Er setzte ein tapferes
    Gesicht auf, lächelte und sagte so huldvoll er konnte: »Wenn‘s so ist, dann muß ich wohl doch

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