Nacht über den Wassern
ihr ein sonniges Lächeln und setzte sich neben sie. »Alles in Ordnung, Mädchen? Was machst du hier zu dieser nachtschlafenden Zeit?«
Margaret blinzelte verwirrt. Er war wie ausgewechselt. Seine hochmütige Art und der vornehme Ton waren verschwunden, und er sprach jetzt in der gleichen Mundart wie der Sergeant. Einen Moment lang war sie zu verblüfft, um zu antworten.
Harry warf einen abschätzenden Blick auf den Ausgang, als überlege er, ob ihm eine Flucht gelingen könnte, dann blickte er zum Tisch zurück und sah, daß der jüngere Polizist ihn nicht aus den Augen ließ. Offenbar gab er den Gedanken zu fliehen auf und wandte sich wieder Margaret zu. »Wer hat dir dieses Veilchen verpaßt? Dein Alter?«
Margaret fand die Stimme wieder und sagte: »Ich habe mich in der Dunkelheit verirrt und bin gegen einen Briefkasten geprallt.«
Jetzt war er verblüfft. Er hatte sie für ein Mädchen der Arbeiterklasse gehalten. Nun, da er ihren Akzent hörte, erkannte er seinen Irrtum. Ohne mit der Wimper zu zucken, wechselte er zu seiner vorherigen Rolle zurück. »Ich muß schon sagen, ein schlimmes Mißgeschick.«
Margaret war fasziniert. Welches war sein wirkliches Ich? Er roch nach Kölnischwasser. Sein Haar war zwar eine Spur zu lang, hatte jedoch einen guten Schnitt. Er trug einen nachtblauen Abendanzug, dazu Seidensocken und Lackschuhe. Sein Schmuck war gediegen: brillantenbesetzte Krawattennadel, dazu passende Manschettenknöpfe, eine goldene Uhr mit schwarzem Krokodillederarmband und am kleinen Finger seiner Linken einen schweren Siegelring. Seine Hände waren groß und kräftig, die Fingernägel makellos sauber.
Leise fragte sie ihn: »Haben Sie das Restaurant wirklich verlassen, ohne zu bezahlen?«
Er blickte sie nachdenklich an, ehe er mit verschwörerischer Miene nickte.
»Aber warum?«
»Wenn ich Rebecca Maugham-Flint noch eine Minute länger hätte zuhören müssen, wie sie von ihren verflixten Pferden sprach, hätte ich mich wahrscheinlich nicht mehr beherrschen können und sie erwürgt.«
Margaret kicherte. Sie kannte Rebecca Maugham-Flint. Sie war ein kräftiges, nicht gerade mit Schönheit gesegnetes Mädchen, die Tochter eines Generals – mit dem energischen Wesen und der lauten Kommandostimme ihres Vaters. »Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete sie. Sie konnte sich kaum eine unpassendere Dinnerbegleiterin für den anziehenden Mr. Marks vorstellen.
Steve, der Polizist, kam zurück und nahm Margarets leere Tasse. »Fühlen Sie sich jetzt besser, Lady Margaret?«
Aus den Augenwinkeln sah sie Harry Marks‘ Reaktion auf ihren Titel. »Viel besser, danke. Sie waren sehr freundlich.« Einen Moment lang hatte sie im Gespräch mit Harry ihre eigenen Schwierigkeiten vergessen, nun erinnerte sie sich an alles, was sie noch vorhatte.
»Dann werde ich Sie jetzt verlassen, damit Sie sich wieder Wichtigerem zuwenden können.«
»Lassen Sie sich Zeit«, entgegnete der Schutzmann. »Ihr Vater ist bereits unterwegs, um Sie abzuholen.«
Margarets Herzschlag stockte. Wie konnte das sein? Sie war so überzeugt, daß sie sich in Sicherheit befand – sie hatte ihren Vater unterschätzt! Jetzt quälte sie wieder die gleiche Angst wie auf dem Weg zum Bahnhof. Er war auf dem Weg hierher, jetzt, in dieser Minute! Sie zitterte. »Woher weiß er, wo ich bin?« fragte sie mit hoher, angespannter Stimme.
Der junge Polizist blickte sie voll Stolz an. »Ihre Beschreibung wurde gestern nacht durchgegeben, und ich las sie bei Dienstbeginn. Ich habe Sie in der Dunkelheit natürlich nicht erkannt, aber mich an Ihren Namen erinnert. Die Anweisung lautete, Seine Lordschaft sofort zu benachrichtigen. Sobald ich Sie hierhergebracht hatte, rief ich ihn an.«
Margaret stand auf, ihr Herz hämmerte. »Ich werde nicht auf ihn warten«, erklärte sie. »Es ist inzwischen hell.«
Der Polizist wirkte besorgt. »Einen Augenblick«, meinte er nervös. Er wandte sich dem Wachhabenden zu. »Sergeant, die Lady möchte nicht auf ihren Vater warten.«
Harry Marks zwinkerte Margaret zu: »Keiner kann Sie zwingen, hier zu warten – von zu Hause fortzulaufen ist in Ihrem Alter kein Verbrechen. Wenn Sie wollen, brauchen Sie bloß hinauszuspazieren.«
Margaret hatte entsetzliche Angst, daß man versuchen würde, sie hier festzuhalten.
Der Sergeant stand auf und kam um die Schranke herum. »Er hat recht«, sagte er, »Sie können jederzeit gehen.«
»Oh, danke«, seufzte Margaret erleichtert.
Der Sergeant lächelte. »Aber Sie
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