Nacht über den Wassern
»Verdammt, verdammt, verdammt!« sagte sie laut.
Sie setzte sich auf das erhöhte Kielschwert und grübelte mutlos vor sich hin. Es war empfindlich kalt in diesem Bootshaus, und sie war froh, daß sie ihren Kaschmirmantel dabeihatte. Sie rief weiterhin in Minutenabständen um Hilfe, aber je länger sie gefangen saß, desto rascher schwand ihre Hoffnung. Sicherlich waren die Passagiere inzwischen schon alle wieder an Bord des Clippers – und der würde bald abheben. Ohne Nancy.
Der Verlust der Firma ist meine geringste Sorge, dachte sie. Was ist, wenn eine ganze Woche lang kein Mensch an diesem Bootshaus vorüberkommt? Dann kann ich hier verrecken… Von Furcht überwältigt, schrie sie laut und anhaltend um Hilfe, aber der hysterische Unterton in ihrer Stimme verstärkte nur noch ihre Angst.
Nach einer Weile ermüdete sie und beruhigte sich: Peter mochte zwar bösartig sein – doch ein Mörder war er nicht. Er würde sie nicht krepieren lassen. Wahrscheinlich plante er einen anonymen Anruf bei der Polizei in Shediac, damit man sie befreite – aber natürlich erst nach der Aufsichtsratssitzung. Nancy redete sich ein, sie sei in Sicherheit, machte sich aber dennoch schreckliche Sorgen. Wenn Peter nun doch hinterhältiger war, als sie glaubte? Und wenn er sie einfach vergaß? Wenn er krank würde oder einem Unfall zum Opfer fiele? Wer würde sie dann retten?
Sie hörte, wie die Motoren des Clippers über der Bucht aufheulten, und ihre Panik verwandelte sich in Verzweiflung. Nun war sie verraten und verkauft – selbst Mervyn hatte sie verloren, denn der saß jetzt bestimmt an Bord und wartete auf den Start. Er mochte sich flüchtig fragen, was ihr wohl zugestoßen sein konnte, doch da ihre letzten Worte an ihn »Du Trottel!« gewesen waren, glaubte er nun sicher, sie hätte ihn abgeschrieben.
Die Annahme, sie würde schlicht und einfach mit ihm nach England ziehen, war purer Arroganz entsprungen. Sah sie die Sache aber realistisch, so mußte sie gerechterweise zugeben, daß sich alle Männer in Mervyns Situation verhalten hätten wie er. Es war allein ihrer eigenen Dummheit zuzuschreiben, daß sie sich so darüber aufgeregt hatte. Nur deshalb waren sie im Zorn auseinandergegangen. Nun sah sie ihn vielleicht nie mehr wieder und war womöglich zum Sterben verurteilt.
In der Ferne steigerte sich das Heulen der Motoren zum Crescendo. Der Clipper hob ab. Der Lärm hielt noch ein, zwei Minuten mit unverminderter Lautstärke an und nahm dann allmählich ab, während die Maschine in immer größere Höhen stieg. Das war‘s, dachte sie. Meine Firma ist futsch, Mervyn ist fort, und ich werde hier langsam, aber sicher verhungern. Nein, nicht verhungern, sondern verdursten, werde toben und schreien in meiner Qual…
Sie spürte eine Träne auf ihrem Gesicht und wischte sie mit dem Ärmelaufschlag ihres Mantels fort. Sie mußte sich zusammenreißen. Es gab bestimmt einen Ausweg, und sie schaute sich noch einmal prüfend um. Ob sie den Mast wohl als Rammbock benutzen konnte? Sie langte nach oben. Nein, der Mast war zu schwer für eine Person. Ob sie die Tür irgendwie aufschlitzen konnte? Geschichten von Gefangenen in mittelalterlichen Verliesen kamen ihr in den Sinn: Jahrelang hatten sie mit den Fingernägeln an den Mauern gekratzt, ohne jede Aussicht auf eine erfolgreiche Flucht. Ihr standen keine Jahre zur Verfügung, und sie brauchte etwas Stärkeres als Fingernägel. Sie kramte in ihrer Handtasche: ein kleiner Kamm aus Elfenbein, ein knallroter, beinahe aufgebrauchter Lippenstift, eine Puderdose, die die Jungen ihr zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatten, ein besticktes Taschentuch, ihr Scheckbuch, eine Fünf-Pfund- Note, etliche Fünfzig-Dollar-Scheine und ein kleiner goldener Kugelschreiber – also nichts Brauchbares. Und ihre Kleidung? Sie trug einen Krokodilledergürtel mit goldlegierter Schnalle. Ob der Dorn der Schnalle wohl ausreichen würde, um das Holz um das Schloß herum durchzuschaben? Eine langwierige Plackerei, aber Zeit hatte sie ja genug.
Sie kletterte vom Boot hinab und suchte das Schloß am Eingangstor. Das Holz war ziemlich dick, aber vielleicht brauchte sie sich ja nicht ganz hindurchzuarbeiten und es brach, wenn die Vertiefung erst groß genug war. Sie rief noch einmal um Hilfe. Keine Antwort.
Sie löste ihren Gürtel, und da der Rock ohne ihn hinunterzurutschen drohte, zog sie ihn gleich mit aus, legte ihn ordentlich zusammen und drapierte ihn über den Schandeckel des Bootes. Obwohl
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