Nacht über den Wassern
mit glutvollen Augen, der sich aus der wohlgenährten Menge hervorhob, weil er ausgemergelt aussah und einen abgetragenen Anzug aus dickem, grobem Tuch anhatte. Sein Haar war ganz kurz geschnitten – wie das eines Strafgefangenen. Er wirkte nervös und angespannt.
Margaret schaute zu ihm hinüber, da trafen sich ihre Blicke, und plötzlich erinnerte sie sich. Sie hatte sein Bild in der Zeitung gesehen. Er war Carl Hartmann, der deutsche Sozialist und Wissenschaftler. Margaret beschloß, so kühn wie ihr Bruder zu sein; sie setzte sich ihm gegenüber und stellte sich vor. Hartmann war jahrelang Hitlers Gegner gewesen, und junge Menschen wie Margaret verehrten ihn um seines Mutes willen. Dann war er vor einem Jahr plötzlich von der Bildfläche verschwunden, und alle hatten das Schlimmste befürchtet. Margaret vermutete nun, daß er aus Deutschland geflüchtet war. Er sah aus wie einer, der Furchtbares durchgemacht hatte.
»Die ganze Welt hat sich gefragt, was mit Ihnen geschehen ist«, sagte Margaret zu ihm.
Er antwortete in korrektem Englisch, aber mit starkem Akzent.
»Ich wurde unter Hausarrest gestellt, man gestattete mir jedoch, meine wissenschaftliche Arbeit weiterzuführen.«
»Und dann?«
»Konnte ich entkommen«, erwiderte er. Er stellte den Herrn neben sich vor. »Kennen Sie meinen Freund, Baron Gabon?«
Margaret hatte von ihm gehört. Philippe Gabon war ein französischer Bankier, der seinen ungeheuren Reichtum nutzte, um die jüdische Sache, etwa den Zionismus, zu unterstützen, was ihn bei der britischen Regierung nicht gerade beliebt machte. Er reiste viel durch die Welt, um in anderen Ländern für die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen zu plädieren. Er war ein kleiner, etwas rundlicher Mann mit gepflegtem Bart und trug einen modischen schwarzen Anzug mit taubengrauer Weste und silbergrauer Krawatte. Margaret nahm an, daß er für Hartmann den Flug bezahlte. Sie gab ihm die Hand und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Hartmann zu.
»Die Zeitungen brachten gar nichts über Ihre Flucht«, sagte sie.
Baron Gabon warf ein: »Wir haben uns bemüht, es, so gut es ging, geheimzuhalten, bis Carl in Sicherheit ist.«
Das klang ominös. Es hört sich an, als wären die Nazis immer noch hinter ihm her, dachte Margaret. »Was werden Sie in Amerika machen?« fragte sie.
»Ich werde an der Universität Princeton arbeiten, in der Fakultät für Physik«, antwortete Hartmann. Ein bitterer Zug umspielte seinen Mund. »Ich wollte mein Vaterland nicht verlassen. Aber wenn ich geblieben wäre, hätte meine Arbeit zum Sieg der Nazis beigetragen.« Margaret wußte nichts über Hartmanns Arbeit – nur daß er Wissenschaftler war. Sie interessierte sich für seine politische Einstellung. »Ihr Mut spornte so viele an«, sagte sie. Sie dachte an Ian, der Hartmanns Reden übersetzt hatte, damals, als Hartmann noch Reden halten durfte.
Ihr Lob machte ihn verlegen. »Ich wollte, ich hätte weitermachen können«, meinte er. »Ich hätte vielleicht nicht aufgeben dürfen.«
»Du hast nicht aufgegeben, Carl«, versicherte ihm Baron Gabon. »Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hättest gar nichts anderes tun können.«
Hartmann nickte, und man sah ihm an, daß er zwar verstandesmäßig wußte, daß Gabon recht hatte, doch daß ihn tief im Herzen das Gefühl quälte, er habe sein Vaterland im Stich gelassen. Margaret hätte so gern etwas Tröstendes gesagt, aber sie wußte nicht, was. Der Reisebegleiter von Pan American half ihr aus dem Dilemma. »Das
Mittagessen steht im nächsten Wagen bereit. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein.«
Margaret stand auf. »Es ist eine große Ehre für mich, daß ich Sie kennenlernen durfte. Ich hoffe, wir können uns später noch ein wenig unterhalten.«
»Bestimmt«, versicherte ihr Hartmann und lächelte zum erstenmal. »Wir werden immerhin fast fünftausend Kilometer miteinander reisen.«
Margaret begab sich in den Speisewagen und setzte sich zu ihrer Familie. Vater und Mutter saßen an einer Tischseite, und die drei Kinder zwängten sich an die andere, Percy zwischen Margaret und Elizabeth. Margaret warf einen raschen Blick auf ihre Schwester. Wann würde Elizabeth ihre Bombe platzen lassen?
Der Kellner schenkte Wasser ein, und Vater bestellte eine Flasche trockenen Weißwein. Elizabeth blickte stumm aus dem Fenster, während Margaret angespannt wartete. Mutter spürte die Spannung und fragte: »Was habt ihr beiden Mädchen?«
Margaret schwieg. Schließlich meinte Elizabeth:
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