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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sagte: »Bitte entschuldigen Sie. Etwas, das Sie sagten, hat mich ins Träumen gebracht.« »Ich weiß«, entgegnete sie. »Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, träumten Sie von jemandem, den Sie lieben.«
    Nancy Lenehan wartete voll fieberhafter Ungeduld, während Mervyn Loveseys hübsches gelbes Flugzeug abflugbereit gemacht wurde. Lovesey erteilte dem Mann im Tweedanzug, der, soviel sie herausgehört hatte, Meister in seiner Fabrik war, letzte Anweisungen. Es gab dort Schwierigkeiten mit der Gewerkschaft, die mit einem Streik gedroht hatte.
    Als er fertig war, drehte sich Lovesey zu Nancy um und sagte: »Siebzehn Werkzeugmacher arbeiten für mich, und jeder ist ein verflixter Individualist!«
    »Was stellen Sie her?« erkundigte sie sich.
    »Flügelräder«, antwortete er. Er deutete auf die Maschine. »Flugzeugpropeller, Schiffsschrauben und dergleichen. Alles, was komplexe Wölbungen hat. Aber mit der technischen Seite gibt es keine Schwierigkeiten, dafür um so mehr mit den Arbeitskräften.« Er lächelte herablassend und fügte hinzu: »Solche Probleme interessieren Sie bestimmt nicht.«
    »O doch«, entgegnete sie. »Auch ich leite eine Fabrik.«
    Das verblüffte ihn sichtlich. »Welcher Art?«
    »Ich stelle pro Tag fünftausendsiebenhundert Paar Schuhe her.«
    Das beeindruckte ihn, aber gleichzeitig fühlte er sich offenbar übertrumpft, denn er sagte mit einer Mischung aus Spott und Bewunderung: »Wie schön für Sie.« Nancy schloß, daß seine Fabrik kleiner war als ihre.
    »Vielleicht sollte ich sagen, ich stellte Schuhe her.« Sie hatte einen sehr unangenehmen Geschmack im Mund, als sie das gestand. »Mein Bruder versucht, die Firma über meinen Kopf hinweg zu verkaufen. »Deshalb«, fügte sie mit einem besorgten Blick auf das Flugzeug hinzu, »muß ich den Clipper erreichen.«
    »Das werden Sie auch«, sagte er zuversichtlich. »Meine Tiger Moth ist so schnell, daß wir sogar noch eine Stunde Zeit übrig haben werden.«
    Sie hoffte inbrünstig, daß er recht hatte.
    Der Mechaniker sprang von der Maschine hinunter und meldete: »Alles bereit, Mr. Lovesey.«
    Lovesey warf einen Blick auf Nancy. »Holen Sie ihr einen Helm«, wies er den Mechaniker an. »Mit diesem lächerlichen Hütchen kann sie nicht fliegen.«
    Nancy befremdete es, wie abrupt er zu seiner gleichgültigen, ja beleidigenden Art zurückkehrte. Zum Zeitvertreib unterhielt er sich offenbar ganz gern mit ihr, aber kaum gab es etwas Wichtigeres, verlor er das Interesse. Sie war es nicht gewöhnt, daß Männer sie mit einer solchen Gleichgültigkeit behandelten. Auch wenn sie nicht zur Verführerin geboren war, war sie doch so attraktiv, daß sie Männerblicke anzog, und sie hatte eine gewisse Autorität. Es kam schon vor, daß Männer sich ihr gegenüber gönnerhaft benahmen, aber nicht mit einer solchen Interesselosigkeit. Sie nahm sich vor, sich darüber nicht zu ärgern; sie würde für die Chance, ihren heimtückischen Bruder einzuholen, noch viel mehr als Unhöflichkeit einstecken.
    Sie begann sich für seine Ehe zu interessieren. »Ich jage meiner Frau hinterher«, hatte er gesagt, ein erstaunlich offenes Eingeständnis.
    Sie konnte verstehen, warum seine Frau ihm davonlief. Er sah erstaunlich gut aus, aber er war egozentrisch und hatte kein Gespür für die Gefühle anderer. Deshalb fand sie es merkwürdig, daß er seiner Frau nachrannte. Sie hätte ihn für den Typ gehalten, der für so etwas zu stolz war und eher sagte: »Zum Teufel mit ihr.« Vielleicht schätzte sie ihn falsch ein.
    Sie fragte sich, wie seine Frau war. Hübsch? Sexy? Selbstsüchtig und verzogen? Eine eingeschüchterte Maus? Aber das würde sie wohl bald herausfinden – falls sie den Clipper noch erreichten.
    Der Mechaniker brachte ihr einen Helm, und sie setzte ihn auf. Lovesey kletterte in die Maschine und brüllte über die Schulter: »Helfen Sie ihr hoch.« Der Mechaniker, der höflicher war als sein Arbeitgeber, half ihr erst in den Mantel. »Es ist kalt da oben, auch wenn die Sonne scheint«, erklärte er. Dann stemmte er sie hoch, und sie kletterte auf den Rücksitz. Er reichte ihre Reisetasche hinauf, und sie schob sie unter die Füße.
    Als der Motor ansprang, wurde ihr mit einem nervösen Schauder bewußt, daß sie mit einem völlig Fremden flog.
    Sie wußte so gut wie gar nichts über Mervyn Lovesey. Er konnte ein ganz und gar unfähiger Pilot sein, ungenügend ausgebildet und mit einer schlecht gewarteten Maschine. Er konnte sogar ein

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