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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nicht. Für ehrbare Londoner der Arbeiterklasse wäre es eine Schande, wenn sie ihre Kinder nicht zur Schule schickten; das war fast so schlimm, als wenn die Polizei ins Haus kam oder der Gerichtsvollzieher. Die meisten Kinder mußten einen Tag daheim bleiben, wenn ihre Schuhe beim Schuster waren, weil sie kein zweites Paar hatten; das war den Müttern schon peinlich genug. »Aber Kinder müssen die Schule besuchen, das ist Gesetz!« sagte Harry.
    »Wir hatten diese dummen Gouvernanten. Deshalb kann ich nicht auf die Universität – keine Zeugnisse.« Sie wirkte niedergeschlagen. »Ich glaube, ein Studium hätte mir Spaß gemacht.«
    »Es ist unglaublich! Ich dachte, reiche Leute können tun, was sie wollen.«
    »Nicht bei meinem Vater.«
    »Und der Junge?« Harry deutete mit dem Kopf auf Percy.
    »Oh, er war natürlich in Eton«, antwortete sie bitter. »Für Söhne ist das etwas ganz anderes.«
    Harry dachte nach. »Bedeutet das«, fragte er zögernd, »daß Sie auch in anderen Dingen nicht derselben Meinung sind wie Ihr Vater – beispielsweise, was Politik betrifft?«
    »Wie könnte ich?« fragte sie heftig. »Ich bin Sozialistin!«
    Das, dachte Harry, könnte der Schlüssel zu ihr sein. »Ich war einmal in der kommunistischen Partei«, sagte er. Es stimmte, er war mit sechzehn eingetreten, aber nur drei Wochen dabeigeblieben. Er wartete auf ihre Reaktion, ehe er sich entscheiden wollte, wieviel er ihr sagte.
    Sie horchte auf. »Warum sind Sie ausgetreten?«
    Die Wahrheit war, daß politische Versammlungen ihn zu Tode langweilten, aber es war vielleicht ein Fehler, das zuzugeben. »Es ist schwer, das in Worte zu fassen«, schwindelte er.
    Er hätte wissen müssen, daß das bei ihr nicht ankam. »Aber Sie müssen doch wissen, warum Sie ausgetreten sind«, meinte sie ungehalten.
    »Ich glaube, es erinnerte mich zu sehr an die Sonntagsschule.« Da lachte sie. »Ich weiß genau, was Sie meinen.«
    »Jedenfalls glaube ich, daß ich mehr getan habe als die Kommunisten, wenn es darum ging, der Arbeiterklasse von dem Reichtum zurückzugeben, der ihr zu verdanken ist.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Nun, ich beschaffe Bargeld in Mayfair und bringe es nach Batter- sea.«
    »Heißt das, daß Sie nur die Reichen berauben?«
    »Es hätte wenig Sinn, es bei den Armen zu versuchen.«
    Wieder lachte sie. »Aber bestimmt geben Sie doch nicht alles weiter, was Sie unrechtmäßig erworben haben? Wie Robin Hood, meine ich.«
    Er überlegte, was er ihr antworten sollte. Würde sie ihm glauben, wenn er behauptete, er bestehle die Reichen nur, um den Armen zu geben? Obwohl sie intelligent war, war sie auch naiv – aber so naiv auch wieder nicht, schloß er. »Ich bin nicht die Wohlfahrt.« Er zuckte die Schultern. »Aber ich helfe anderen schon manchmal.«
    »Das ist erstaunlich«, sagte sie. Ihre Augen sprühten vor Leben und Interesse, und sie sah einfach hinreißend aus. »Ich wußte wohl, daß es Menschen wie Sie gibt, aber es ist ein Erlebnis für mich, Sie kennenzulernen und mich mit Ihnen unterhalten zu können.« Übertreib es nicht, Mädchen, dachte Harry. Frauen, die sich allzusehr für ihn begeisterten, machten ihn nervös, denn aus ihrer Begeisterung wurde allzu leicht Empörung, wenn sie feststellten, daß er auch nur ein Mensch war. »So was Besonderes bin ich wirklich nicht«, entgegnete er verlegen. »Ich komme nur aus einer Welt, die Ihnen fremd ist.«
    Sie bedachte ihn mit einem Blick, der unmißverständlich ausdrückte, daß sie ihn doch für etwas Besonderes hielt.
    Das ging wirklich weit genug, fand er. Nun war es höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Sie machen mich verlegen«, erklärte er.
    »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich rasch. Sie überlegte einen Moment, dann fragte sie: »Warum reisen Sie nach Amerika?«
    »Um Rebecca Maugham-Flint zu entgehen.«
    Sie lachte. »Nein, ernsthaft!«
    Sie ist hartnäckig wie ein Terrier, wenn sie sich in etwas verbissen hat, dachte er, sie läßt nicht mehr los. Es war unmöglich, sie im Zaum zu halten, und das machte sie zur Gefahr. »Ich mußte weg, um dem Gefängnis zu entgehen«, gestand er.
    »Was werden Sie drüben tun?«
    »Ich dachte, sie nehmen mich vielleicht bei der kanadischen Air Force. Ich würde gern fliegen lernen.«
    »Wie aufregend.«
    »Was ist mit Ihnen? Weshalb wollen Sie nach Amerika?«
    »Wir laufen davon«, sagte sie abfällig.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie wissen, daß mein Vater Faschist ist?«
    Harry nickte. »Ich habe in den

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