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Nacht über der Prärie

Nacht über der Prärie

Titel: Nacht über der Prärie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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beachten. Acht Uhr zwanzig hatte die Sekretärin die ersten Wünsche ihrer beiden Vorgesetzten erfüllt und kam in den Vorraum, um die Anliegen der Wartenden zu notieren und zu gruppieren. Bei manchen mußte sie viel Geduld aufbringen, bis sie ihre Wünsche erklärt hatten. Einer der Indianer dolmetschte. Endlich drang Miss Thomson bis zu Joe King vor und sagte: »Gut, daß Sie schon hier sind. Gehen Sie bitte gleich hinüber ins Hospital und bringen Sie uns von dort ein Gesundheitszeugnis mit.«
    »Wofür?« Das Wort kam nur eben aus einer Bewegung der Unterlippe hervor.
    »Der Superintendent verlangt es.«
    »Mit welcher Begründung?«
    »Mister King, der Superintendent verlangt eine Kontrolle Ihres Gesundheitszustandes.«
    »Das mag ja sein. Aber ich verlange die Begründung.«
    Miss Thomson wurde rot vor Empörung, doch reichte das zarte Rouge der Wangen noch aus, um diesen Zustand zu verdecken. »Ich werde dem Superintendent mitteilen, daß Sie sich weigern, seiner Anordnung zu entsprechen.«
    »Teilen Sie dem Superintendent lieber mit, was wahr ist. Ich verlange die Begründung.«
    Das Rouge reichte nicht mehr aus. Miss Thomson wurde vor Zorn rot bis zu den Schläfen hinauf. Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging an ihren Arbeitsplatz zurück. Auf diese Weise übersah sie, daß eben in der Zeit des Wortwechsels noch ein weiterer Besucher den Warteraum betreten hatte, dessen Anliegen nun nicht auf Liste 1, acht Uhr zwanzig, aufgenommen wurde. Es war ein alter Indianer, der nach einem kurzen unauffälligen Rundblick einen Stehplatz in der dem Standplatz Joe Kings gegenüberliegenden Ecke wählte.
    In den Raum kehrte das gedrückte Schweigen des Wartens zurück. Aber es geschah bald wieder etwas Unerwartetes und Ungewöhnliches. Der lange Polizist tauchte auf, ging auf Joe King zu und sagte: »Sie sind mit Ihrem Wagen da?« – »Ja.«
    »Sie sind zu schnell und auch unruhig gefahren. Kommen Sie mit zur Blutprobe.«
    »Ich bin fünfzig Meilen gefahren; das ist auf dieser Strecke weniger, als erlaubt. Sie haben nicht kontrolliert. Wie kommen Sie dazu, mir eine Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit vorzuwerfen! Aber wenn Sie die Blutprobe verlangen, bitte.«
    Joe King ging mit dem Polizisten zum Hospital. Er wurde in ein Untersuchungszimmer geführt. Ein Assistenzarzt nahm die Probe. Das Ergebnis war einwandfrei.
    »Kommen Sie bitte noch in den Röntgenraum«, forderte der Assistent auf.
    »Wozu?« Stonehorn schlug seinen scharfen Ton an.
    Der Assistent blickte erstaunt auf. »Zu einer Röntgenaufnahme natürlich.«
    »Wozu?«
    »Es kann sein, daß Sie innere Verletzungen haben, die noch nicht ausgeheilt sind.«
    »Ich verzichte auf jegliche Behandlung. Danke.«
    »Sie weigern sich?«
    »Ich weigere mich nicht. Ich mache von meinem Recht Gebrauch, mich nicht behandeln zu lassen.«
    Der Assistenzarzt zog die Augenbrauen hoch und warf dem Polizisten einen Blick zu, als wollte er fragen: Ist dieser Mensch noch ganz richtig im Kopf? Er ist wohl ein typischer Indianer; bei einem solchen Mann kann man normal und verrückt nicht immer genau unterscheiden.
    Joe King erhielt die Bescheinigung, daß in seinem Blut keine Spuren von Alkoholgenuß zu finden waren. Er begab sich zurück zum Büro des Superintendent. Im Warteraum hatte sich inzwischen nichts verändert. Alle, die gekommen waren, warteten noch. Hawley hatte eine Besprechung und noch keine Zeit gehabt, jemanden zu empfangen.
    Um neun Uhr wurden die ersten Besucher hereingeholt. Dabei bemerkte Miss Thomson den alten Indianer, der sich inzwischen eingefunden hatte, und fragte: »Was haben Sie?«
    Der Alte zeigte ein oder zwei Papiere; welcher Art, das konnte Joe King nicht sehen, weil die Sekretärin davorstand. Miss Thomson schien jedoch beeindruckt. »Sie müssen sich heute leider ziemlich lange gedulden«, sagte sie gnädig, »aber der Superintendent oder Mister Shaw werden Sie sicher empfangen. Ja, sicher.«
    Der alte Indianer beschied sich damit und ging in seine nach außen hin gleichgültige Haltung zurück. Er wirkte aber wie ein Mensch, der andere nicht gleichgültig ließ.
    Da Joe King einige untätige Stunden vor sich hatte, begann er den ihm fremden Alten unauffällig in Augenschein zu nehmen und sich auf diese Weise selbst zu beschäftigen. Der Mann war groß, hager, die Schultern hielt er aufrecht. Seine Hände waren sehnig, das Gesicht scharf, ausgemergelt. Nach altem Indianerbrauch trug er keinen Hut. Das graue Haar war

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