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Nacht über der Prärie

Nacht über der Prärie

Titel: Nacht über der Prärie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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nicht zu tun. Miss Thomson waltete wie einst jener alte ägyptische Gott, der die Plätze in den Wartezimmern vergab und gegen den sich aufzulehnen völlig aussichtslos war. Sie pflegte die Indianer und Indianerinnen, die sich mit ihren vielfach durchgeprüften Anliegen an den Superintendent oder seinen Stellvertreter zu wenden wünschten und die mit stoischen Gesichtern am Gartenzaun standen oder auch schon in das Wartezimmer eingetreten waren, nach der Art ihrer Wünsche zu befragen und danach in Gruppen einzuteilen. Sie berücksichtigte auch Alter und Geschlecht, die Länge des Weges, die die Betreffenden zu machen hatten, und ob sie ein Auto oder ein Pferd besaßen oder zu Fuß kamen, ob sie Kinder mitgebracht hatten, ob sie sich voraussichtlich langatmig und zeitraubend oder kurzatmig und aufgeregt ausdrücken würden, und unter Berücksichtigung und Kombination aller solcher Umstände ergab sich eine Reihenfolge als Resultat, die wesentlich von Miss Thomsons augenblicklichen Gefühlsreaktionen oder auch von dauerhaften Ab- und Zuneigungen bestimmt war.
    Es blieb ziemlich sicher, daß Joe King als letzter empfangen werden würde und vorher jeweils zwei bis vier Stunden den Genuß hatte, von allen anderen Antragstellern und allen Angestellten, die aus und ein gingen, aus den Augenwinkeln betrachtet und mit irgendwelchen unausgesprochenen Urteilen oder Beleidigungen stillschweigend begutachtet zu werden. Joe King hätte dem ausweichen können, indem er später kam, aber er hatte nicht die Absicht, zuzugeben, daß ihm die moralischen Stiche mit langen Nadeln irgendwie fühlbar wurden oder daß er in der Wartezeit stets in Sorge um seine Pferde war, die solange unbeaufsichtigt blieben.
    So kam er auch an diesem Tag um sieben Uhr dreißig mit seinem Wagen in die Agentursiedlung und kaufte zunächst im Supermarkt Lebensmittel ein, was an einem solchen Tag seine Aufgabe war. Während er den Korbwagen vor sich herschob und Brot, Fleisch, auch Milch und Früchte für Queenie auswählte, betrat ein weiterer Käufer den Laden. Es war Harold Booth, der soeben mit einem neuen Volkswagen eingetroffen war. Es schien, daß sein Herz an dieser Automarke hing. Booth nahm nur einen Kasten Coca-Cola und richtete es so ein, daß er mit King zusammen an die Kasse kam. Joe hatte nichts getan, um etwa auszuweichen. Er zahlte als erster. Harold rief hinter ihm: »Hallo, Joe, wie geht’s? Wieder ganz auf dem Damm?« und es hätte nach dem Ton des Grußes nicht viel gefehlt, daß er Joe auf die Schulter geklopft hätte.
    Joe King war es auf Betreiben von Booth junior vom Gericht untersagt worden, irgendwelche Beschuldigungen gegen diesen zu wiederholen, die ohne Beweismittel als üble Nachrede betrachtet werden müßten, und es war ihm unter Androhung scharfer Strafen aufgegeben worden, jede tätliche Beleidigung zu unterlassen. Booth konnte sich sicher fühlen. Er konnte es sich gestatten, Joe durch joviales Wesen zu verhöhnen und dessen öffentliche Angriffe dadurch ins Lächerliche zu ziehen. Es war eine Lage, in der Joe weder seine körperliche Gewandtheit noch seine Klugheit nützten.
    Er schwieg und ging. Zwar hatte er Beweismittel in der Hand, aber er traute dem Gericht in der jetzigen Lage nicht zu, daß es deren Beweiskraft anerkennen würde. Booth hatte seinen Widersacher wieder einmal geschlagen.
    »Was für ein unfreundlicher Nachbar«, sagte Harold hinter Joe an der Kasse, und die Kassiererin hatte das Ereignis des Tages erlebt, das sie an auserwählte Kunden weitererzählen konnte.
    Joe war sich des kommenden Geschwätzes über seine neue Niederlage durchaus bewußt. Noch gereizter und nervöser als sonst begab er sich punkt acht Uhr in den Warteraum im Bürohaus des Superintendent.
    Dieser Raum lag gleich hinter dem Eingang, und alle mußten ihn passieren, auch die Angestellten, die in den Büros zu tun hatten. Es war ein einfacher Raum mit vielen Stehplätzen und zwei hölzernen, hellblau gestrichenen Wandbänken, auf denen sich Frauen und sehr alte Männer niederließen.
    Joe King nahm einen Stehplatz ein, wie es dem Rest seiner Selbstachtung entsprach. Er stellte sich in den Hintergrund in eine Ecke, von der aus er beobachten konnte.
    Zunächst schien sich alles wie erwartet anzulassen. Miss Thomson, die Pünktlichkeit selbst, war schon da. Der Superintendent und sein Stellvertreter erschienen heute zwei Minuten später als Joe King, das hieß also verspätet; sie gingen rasch durch den Vorraum, ohne jemanden zu

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