Nacht über Eden
er hinaus.
Tante Fanny wandte ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu.
»Jetzt mach dir mal keine Sorgen, Annie. Du kommst heim mit uns. Luke, mach diese Gitter weg, damit sie aus dem Bett raus kann. Ich schau mal, wo hier ‘n Koffer rumsteht und pack ihre Sachen zusammen.«
»Was mir gehört, ist alles in der rechten Hälfte des Kleiderschrankes, Tante Fanny. Es ist nicht viel. Der Koffer ist dort unten drin.«
Luke drückte meine Hand. »Ich bin so glücklich, dich zu sehen!«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Luke.
Warum bist du denn nicht schon früher gekommen?«
»Ich habe es versucht. Ich rief Tony Tatterton an, aber er hat mich immer abgewimmelt, hat mir erzählt, daß der Arzt nicht wünscht, daß du Besuch hast.«
»Und Drake?«
»Drake hat das auch gesagt. Sie haben von mir verlangt, daß ich noch ein wenig warte.«
»Aber ich habe dich doch in meinem Brief ausdrücklich darum gebeten, daß du kommst!«
»In deinem Brief? Ich habe niemals einen Brief bekommen, Annie.«
»Dann hat er ihn nicht abgeschickt. Ich hätte es wissen müssen. Diese ganzen Geschichten über deine Prüfungen und Feiern und Freunde… oder vielmehr Freundinnen.« Jetzt hatte ich ein richtig schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, weil ich geglaubt hatte, Luke hätte sich in einen selbstsüchtigen und eingebildeten Menschen verwandelt. Wie hatte ich nur an ihm zweifeln können? Ich hätte es besser wissen müssen! Von Anfang an war ich hier eine Gefangene gewesen, von Anfang an hatte Tony mich angelogen. Mir wurde richtig übel, wenn ich daran dachte, welche häßlichen Lügen er mir aufgetischt hatte.
»Was für Freundinnen?«
»Habt Ihr beide vor, hier noch ewig rumzutratschen, oder können wir los?«
»Natürlich können wir, Ma.«
»Dann mach, was ich dir gesagt hab und klapp endlich diese Gitter runter.«
Luke machte die Gitter auf, während Tante Fanny meine Sachen zusammenpackte und mir etwas zum Anziehen herauslegte.
»Du gehst mit dem Koffer runter, während ich Annie beim Anziehen helfe.«
»Bitte, bring einen Rollstuhl mit, Luke. Einer muß hier oben sein, der andere steht wahrscheinlich am unteren Ende der Treppe, in der Halle.«
»Und laß dich von nichts und niemandem aufhalten«, kommandierte Tante Fanny.
»Jawohl, Chef«, antwortete Luke und schlug scherzhaft die Hacken zusammen. Ich lachte. Es war so gut, wieder fröhlich sein zu können.
»Oh, das kannst du dir sparen. Hast du schon jemals so ‘nen Bengel gesehen?«
»O Tante Fanny… ich bin so froh, daß ihr da seid. Ich war noch nie so froh, euch zu sehen.«
»Soso. Jetz red nich die ganze Zeit. Sag schon, was muß ich machen, um dir zu helfen.«
»Gestern hätte ich alles allein gekonnt, Tante Fanny, aber heute fühle ich mich so müde und schwach. Vielleicht kannst du mir doch helfen, meine Unterwäsche anzuziehen. Aber ich verspreche, ich werde euch in Winnerrow nicht zur Last fallen.«
»Ach du armes Kind«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich hatte Tante Fanny noch nie so warm und liebevoll erlebt. »Meinst du, das wär’n Problem für mich?
Mach uns nur Arbeit, und mach dir keine Sorgen deswegen.
Wir sind doch ‘ne Familie, ganz egal, was irgend jemand sagt.«
»Was meinst du damit, Tante Fanny?«
»Ich meine gar nix. Nu laß mich mal deine Kleider holen.«
Sie half mir beim Anziehen, und Luke kam mit dem Rollstuhl zurück. Vorsichtig hob er mich aus dem Bett und setzte mich in den Stuhl. Wie sicher und geborgen ich mich in seinen Armen fühlte! Dann begann er mich aus dem Zimmer zu schieben.
Ich blickte zurück auf das Himmelbett, den Kosmetiktisch und die Schränke – das ehemalige Zimmer meiner Mutter, von dem ich erwartet hatte, daß es ein warmer und wundervoller Ort für mich sein würde!
Wie traurig es doch war, daß dieses Zimmer sich in einen Ort voller Alpträume verwandelt hatte. Das Bett war mein Käfig geworden, das Badezimmer mit der Wanne voll heißem Wasser zur Folterkammer. Ich fühlte mich tatsächlich, als würde ich einem Gefängnis entfliehen. All das Magische und Verwunschene, das Farthy für mich und Luke immer gehabt hatte – es war nicht mehr als ein Kindertraum gewesen. Die Wirklichkeit war so hart und grausam!
Als Luke mich den Korridor entlangschob, blickte ich mich um und erkannte die Enttäuschung auf seinem Gesicht. Er sah die Spinnweben, die kaputten Birnen in den Kronleuchtern, die verblichenen Teppiche, die abgestoßenen Stellen an den Wänden und
Weitere Kostenlose Bücher