Nacht über Eden
aufschlug und Stimmen hörte. Hastig warf ich einen Blick auf die Uhr und sah, daß es fast sieben Uhr abends war. Ich hatte den ganzen Tag geschlafen. Die Stimmen wurden lauter. Sie kamen den Korridor entlang auf mein Zimmer zu.
Gleich darauf wurde die Tür aufgestoßen, und vor mir standen Tante Fanny und – Gott sei Dank! – Luke.
»Na, die liegt ja da wie’n Baby in seiner Wiege«, rief Tante Fanny. »Und schau dir das bloß an… ihre Haarfarbe is ja ganz anders. So wie Heaven sie mal gehabt hat.«
»Annie!«
Ich hob die Hand, und Luke stürzte zu meinem Bett, um sie über das Seitengitter hinweg zu umklammern. In dem Augenblick, als sich unsere Finger berührten, begann ich zu weinen.
»Weine nicht, Annie. Wir sind ja hier.«
Waren sie hier? Waren sie wirklich hier? Ich verschlang sie mit den Augen, so wie eine Schiffbrüchige auf einer verlassenen Insel ihre Retter mit den Augen verschlingen mochte; ungläubig und gleichzeitig mit überwältigender Freude. Es war, als wäre ein wundervolles Licht in dieses trostlose Leben gekommen, als wären Bretter vor den Fenstern entfernt und Türen aufgesperrt worden. Meine Winnerrow-Welt war hierher zu mir gekommen und hatte mich mit einer Flut von Erinnerungen und wunderbaren Gefühlen überschwemmt! Die Alpträume wichen. Ich würde diesem Wahnsinn entkommen. Mein Herz barst beinahe vor Glück; ich spürte, wie meine Kraft zurückkehrte. Luke hatte mich nicht vergessen, hatte mich nicht im Stich gelassen! Er hatte mein Rufen gehört! Unsere Liebe war so groß, daß sie alle Hindernisse überwinden konnte. Ich war wie eine Blume, die man in eine dunkle Ecke gestellt und niemals gegossen hatte.
Und kurz bevor sie unwiderruflich verwelkte, hatte man die Gefängnismauern eingerissen, hatte dem Licht wieder gestattet, sie zu liebkosen… und ein zärtlicher Regen hatte sie wieder mit Leben erfüllt! Sie würde wieder blühen. Ich würde wieder blühen. Luke und ich würden erneut zusammen sein!
»O Luke, bitte… nimm mich mit nach Hause.«
»Das werden wir tun, Annie.«
Plötzlich erschien Tony hinter Tante Fanny.
»Sind Sie jetzt zufrieden? Können Sie nicht sehen, wie krank sie ist?« schrie er.
»Nein, Luke. Nein. Ich bin nicht krank… er macht mich krank. Er mischt mir etwas ins Essen, das mich schwächt.
Glaub ihm nicht.«
»Genau wie ich mir’s vorgestellt hab’… genau wie der Mann gesagt hat.« Tante Fanny trat einen Schritt näher an mein Bett heran und betrachtete mich voller Mitleid.
»Was für ein Mann, Luke?«
»Irgend jemand hat meine Mutter angerufen und ihr gesagt, sie solle möglichst schnell mit mir hierherkommen, um dich heimzubringen.«
»Troy!« entfuhr es mir. Wer sonst konnte es gewesen sein?
»Was hast du gesagt?« fragte Luke.
»Nichts… Gott sei Dank bist du zurückgekommen.«
»Ein Momentchen noch, dann holen wir dich hier raus, Annie-Schatz«, versicherte Tante Fanny.
»Sie können sie nicht mitnehmen, ohne vorher mit dem Arzt zu reden! Sie ist behindert; sie braucht spezielle Pflege, spezielle Medizin.« Tony war rot angelaufen wie eine Tomate; er war völlig außer sich und schien sich krampfhaft zu bemühen, nicht die Fassung zu verlieren. Seine Augen waren riesengroß, und die Haare standen wild von seinem Kopf ab.
Er sah aus, als hätte er gerade einen elektrischen Schlag bekommen.
»Hör nicht auf ihn, Tante Fanny«, bat ich.
»Sie wird Ihretwegen einen furchtbaren Rückfall erleiden…
vielleicht sogar sterben.«
Tante Fanny drehte sich langsam um und stützte ihre Hände in die Hüften. Sie sah aus wie ein Bussard kurz bevor er sich auf eine Maus herabstürzt.
»Ich hab den Eindruck, daß das Kind eher wegen Ihnen ‘nen Rückfall kriegt. Schauen Sie sie doch an, wie blaß und abgemagert sie is! Kein Wunder, wenn man in diesem« – sie schnüffelte – »in diesem scheußlichen, muffigen Grab eingesperrt ist! Das is hier genau so, wie ich mir’s vorgestellt hab.«
»Ich werde jetzt… ich werde jetzt den Arzt rufen.«
»Tun Sie das nur. Was is’n das überhaupt für einer? Schauen Sie doch nur mal, wie’s hier aussieht. Is der blind oder blöd, oder hat er einfach nich genug Grips? Wie hat er meine Nichte nur an so ‘nem Ort lassen können? Das is ja ‘ne richtige Müllkippe hier. Feucht und modrig und stinkt wie die Pest!«
»Ich werde nicht ruhig zusehen, wie man das Kind mißhandelt«, erklärte Tony, und der ganze Hochmut der Tattertons stand in seinem Gesicht geschrieben. Wütend rauschte
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