Nacht über Eden
die Spieluhr geschickt hatte. Wer außer Troy hätte diese Szene festhalten können? Aber wenn sie gewußt hatte, daß er noch lebte und ihr diese Nachbildung geschickt hatte, warum hatte sie es niemandem erzählt?
Ich ließ mich auf den kleinen, mit Chintz bezogenen Stuhl neben meinem Toilettentisch gleiten und stellte meine Krücken ab. Dann, langsam und sehr vorsichtig, hob ich das Dach der Spielzeughütte hoch, und Chopins Nocturne erklang. Es schien, als hätte die Spieluhr die ganze Zeit darauf gewartet, daß sie wieder jemand in Gang setzte. Ich betrachtete die kleinen Figuren in der Hütte und fand meine Vermutung bestätigt: Der Mann sah aus wie Troy; die junge Dame war Mammi.
Jetzt, nachdem ich in der wirklichen Hütte gewesen war, sah ich Dinge, die ich nie zuvor bemerkt hatte: die winzigen Spielzeuge, die der kleine Mann gemacht hatte, die Teetassen auf dem Tisch in der Küche und die halb offene Hintertür. Ob man sie wohl auf- und zumachen konnte?
Meine Finger zitterten, als ich hineinfaßte und die kleine Tür berührte, die nur wenige Zentimeter groß und an winzigen Türangeln befestigt war. Sie schwang auf, und als ich hineinlugte, sah ich, daß einige Stufen nach unten führten.
Mein Blick blieb an etwas hängen: Auf dieser mysteriösen Treppe lag ein winziges Blatt Papier. Meine Finger waren zu groß, um durch den Türrahmen hindurchzugreifen und es herauszuholen. Es gab nur eine Möglichkeit: Ich mußte das Papier auf die Art herausholen, auf die es sicherlich auch hineingesteckt worden war – mit einer Pinzette.
Ich fand eine Pinzette in der Schublade von Mammis Toilettentisch, und mit dem Auge und der Fingerfertigkeit eines Chirurgen führte ich sie durch die winzige Tür. Ich bekam das geheimnisvolle Papier zu fassen, und als ich es Zentimeter für Zentimeter herauszog, sah ich, daß es ganz klein zusammengefaltet worden war, bis es in das Versteck gepaßt hatte.
Vorsichtig zog ich es aus der Hütte heraus und legte es auf den Tisch. Dann stellte ich das Dach wieder an seinen Platz zurück, um die klingende Melodie zu unterbrechen, und begann das Papier zu entfalten. Im Laufe der Jahre war es brüchig geworden und vergilbt; die Ränder des Papiers bröckelten und drohten in meinen Fingern in Staub zu zerfallen.
Schließlich hatte ich es ganz entfaltet und breitete es vor mir aus. Es war ein Blatt von normaler Briefpapiergröße. Die Worte waren nur noch schwer zu entziffern, aber ich kämpfte mich hindurch.
Du meine große, meine einzige und doch verbotene Liebe.
Mehr als je zuvor erscheint mir die gestrige Nacht wie ein Traum. Das ganze Jahr über hatte ich es mir so viele Male vorgestellt, und nun, da es wirklich geschehen ist, kann ich kaum glauben, daß es nicht nur Traum war.
Ich habe hier gesessen und an Dich gedacht, mir unsere kostbaren gemeinsamen Augenblicke ins Gedächtnis zurückgerufen, die Liebe in deinen Augen und die Zärtlichkeit Deiner Berührungen. Ich konnte nicht anders, ich mußte zu meinem Bett gehen, um nach ein paar Haaren von Dir zu suchen. Gott sei Dank gelang es mir, einige zu finden. Ich werde ein Medaillon für sie anfertigen lassen und sie dann direkt am Herzen tragen. Es tröstet mich zu wissen, daß ich immer etwas von Dir bei mir haben werde.
Ich hatte gehofft, noch eine Weile hierbleiben zu können, obwohl mir klar war, daß es eine Qual sein würde. Ich wollte Dich von Zeit zu Zeit auf Farthy heimlich beobachten können.
Es hätte mir zugleich Vergnügen und Schmerz bereitet, zu sehen, wie Du im Park spazierengehst oder wie Du dasitzt und liest. Ich hätte mich benommen wie ein dummer Schuljunge, das weiß ich.
Heute morgen, kurz nachdem Du gegangen warst, kam Tony zu mir in die Hütte und erzählte mir die Neuigkeit, die Du mir sicher ebenfalls mitteilen willst. Aber wenn Du kommst, werde ich bereits fort sein. Ich weiß, es scheint grausam, daß ich Tony ausgerechnet jetzt allein lasse, aber ich gab ihm all den Trost, den ich ihm schenken kann, als er hier war und wir die Möglichkeit hatten, in Ruhe über alles zu sprechen.
Ich habe ihm nichts von uns erzählt, nichts von Deinem Besuch letzte Nacht. Er weiß nicht, daß Du über meine Existenz Bescheid weißt. Ich konnte nicht mit ihm darüber sprechen, er hat zur Zeit genug andere Probleme. Vielleicht wirst du irgendwann einmal das Gefühl haben, er sollte es wissen. Ich überlasse die Entscheidung Dir.
Vielleicht fragst Du Dich, warum ich die Notwendigkeit verspüre, so kurz nach
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