Nacht über Eden
Herz. Manchmal blätterten wir irgendwelche Modezeitschriften durch und erörterten die Kleider wie zwei Teenager. Wir kicherten über alles, was wir komisch fanden, und seufzten sehnsuchtsvoll angesichts der schönen Modelle.
Das Zimmer meiner Eltern hatte ich noch immer nicht betreten. Mir fehlte einfach der Mut, in den Raum zu gehen, in dem sie geschlafen hatten, und in den ich so oft gegangen war, wenn mich ein böser Traum gequält hatte. Ich fürchtete mich davor, ihr leeres Bett zu sehen, ihre Schränke und Kleider, die Schuhe meines Vaters, den Schmuck meiner Mutter, die Fotos und alles andere, was einst ihnen gehört hatte.
Doch ich wußte, wenn ich mein Leben weiterleben und mit der schrecklichen Tragödie fertigwerden wollte, dann mußte ich mich mit dem auseinandersetzen, was ich so sehr geliebt und dann verloren hatte. Ich mußte den Schmerz und die Trauer lernen!
Mit kleinen, vorsichtigen Schritten und gestützt auf meine Krücken verließ ich mein Zimmer. Im Korridor blieb ich stehen, zögerte erneut, mich ihrem Schlafzimmer zu nähern.
Doch diesmal dauerte mein Zaudern nicht lange; ich war entschlossen, nicht zurückzuweichen.
Ich öffnete die Tür. Die Vorhänge waren zurückgezogen und die Fenster geöffnet. Alles war so hübsch und ordentlich wie damals in jener Nacht, in der sich der schreckliche Unfall ereignet hatte.
Eine Zeitlang stand ich nur in der Tür und sah mich um, wobei ich jede Einzelheit in mich aufnahm. Auf dem Toilettentisch waren Mammis Puder und Parfumflaschen, ein Paar blaue Perlmuttohrringe, die sie am Abend vor Tante Fannys schicksalhaftem Fest abgenommen hatte, und die dunkle Schmuckschatulle aus Mahagoni, die Daddy ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Daneben lagen, ordentlich aufgereiht, ihre perlmuttverzierten Kämme.
Mein Herz wollte fast zerspringen, als ich meinen Blick langsam weiter über das Zimmer schweifen und schließlich auf dem Bett verweilen ließ. Mammis weiche rote Satinpantoffel lugten auf ihrer Seite unter dem Bett hervor und warteten sehnsüchtig darauf, daß ihre kleinen Füße in sie hineinschlüpften. Das Buch, das sie zuletzt gelesen hatte, lag noch immer auf ihrem Nachttisch; ein Lesezeichen steckte zwischen den Blättern und verriet, daß sie fast bis zum Ende gekommen war.
Natürlich hing auch das Gemälde von der Hütte in den Willies noch immer über ihrem Bett. Als ich es jetzt betrachtete, mußte ich an Luke denken, der dorthin gegangen war, um noch einmal über alles nachzudenken, und sich dann entschlossen hatte, auf das College zurückzukehren und sich eine Weile von mir fernzuhalten. Vielleicht hatten ihm ja die Geister seines Großvaters Toby und seiner Großmutter Annie diesen Rat gegeben. Und vielleicht war es ein guter Rat gewesen…
Auf Daddys Kommode stand eine große Fotografie: meine Eltern bei ihrem Hochzeitsempfang in Farthy. Ich entdeckte etwas, das mir früher nie aufgefallen war. Sie sahen beide jung und lebendig aus, doch als ich sie genauer betrachtete, bemerkte ich, daß in Mammis Gesicht auch eine gewisse Sehnsucht lag. Ich wußte, daß man von dort, wo sie standen, in die Richtung des Irrgartens blickte…
Als ich an den Irrgarten dachte, mußte ich auch an Troy und die Hütte denken. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich eilte zurück in mein Zimmer und betrachtete die Spielzeughütte, die mir Mammi zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ich hatte mich so sehr über dieses Geschenk gefreut, da ich wußte, wieviel ihr die Spieluhr bedeutete!
Als ich sie jetzt ansah, erkannte ich, wie vollkommen sie der wirklichen Hütte auf der anderen Seite des Irrgartens nachgebildet war. Auf einmal wußte ich, daß es Troy Tatterton gewesen war, der diese Spieluhr für Mammi angefertigt und sie ihr kurz nach meiner Geburt geschickt hatte. Sie hatte nie darüber gesprochen, von wem sie sie bekommen hatte.
Hatte Mammi wirklich nicht gewußt, daß Troy noch lebte?
Hätte sie denn nicht auf die Idee kommen müssen, daß er die Hütte gemacht und ihr geschickt hatte? Hätte er dann keine Angst haben müssen, daß sie Verdacht schöpfte?
Ein anderes Bild kam mir in den Sinn: die Art, wie er auf seinem Stuhl gesessen war, als er sich mit mir unterhielt… die Art, wie er die Hände hinter seinem Kopf verschränkte. Es war genau die Haltung, die auch der kleine Mann in der Spielzeughütte einnahm. War das nur Zufall? Und die kleine Frau – sah sie nicht aus wie Mammi? Sie mußte gewußt haben, wer ihr
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