Nacht über Eden
bereits eine dünne Haut gebildet hatte. Dennoch gelang es mir, stark zu bleiben und den anderen sogar Trost zu spenden.
»Genau das hätt’ Heaven auch gemacht«, bemerkte Tante Fanny einmal nach einer solchen Szene. »Wenn Not am Mann war, dann war niemand stärker als deine Mutter. Ich hab gejammert und gemeckert, wenn wir nix zu beißen hatten, und sie und Tom sind losgezogen und haben was zu essen rangeschafft. Und sie war’s auch, die unsere Jane gefüttert und versorgt hat, wenn’s der mal wieder schlecht ging.«
Diese Erzählungen über meine Mutter gaben mir die Entschlossenheit und Kraft, weiter an meiner Genesung zu arbeiten, nachdem mich Luke und Drake im Stich gelassen hatten. Tante Fanny erzählte, Luke würde häufig anrufen und sich nach mir erkundigen; wenn sie ihn jedoch fragte, ob er mit mir sprechen wollte, antwortete er nur ›ein andermal‹. Ein halbes Dutzend Male, wenn nicht sogar öfter, versuchte ich, einen Brief an ihn zu schreiben. Doch immer, wenn ich das Geschriebene noch einmal las, zerriß ich das Blatt, denn ich hatte nicht die richtigen Worte gefunden, hatte nicht das ausgedrückt, was ich wirklich fühlte.
Dr. Williams kam häufig vorbei, um zu sehen, welche Fortschritte ich machte. Meine Beine wurden jeden Tag kräftiger, und er überwies mich an eine Krankengymnastin. Sie sollte mir helfen, meine Muskeln wieder aufzubauen, bis ich die Gehhilfe nicht mehr brauchen würde. Außerdem verschrieb er mir Krücken, die ich ausschließlich dazu verwenden sollte, das Gleichgewicht zu bewahren. Wenige Tage später kam ich allein die Treppen hinauf und hinunter und konnte endlich ohne Hilfe aus dem Haus gehen. Das erste was ich tat war, daß ich mich in den Pavillon setzte und über alles nachdachte, was zwischen Luke und mir geschehen war. Tante Fanny kam zu mir heraus und bestand darauf, daß ich eine Jacke anziehen sollte.
»Es ist ganz schön kalt, und du bist noch längst nich wieder richtig auf ‘m Damm.«
Dann war es endgültig Herbst geworden. Eines Morgens fiel mir plötzlich auf, daß fast alle Blätter eine rostrote oder goldene Färbung angenommen hatten.
Ich dachte daran, wie sehr Mammi den Herbst geliebt hatte.
Sie hatte immer gesagt, daß er in den Willies ganz besonders schön sei. »Ich liebte es, im Herbst durch den Wald zu wandern. Die Bäume über mir leuchteten wunderschön im Sonnenlicht, und jeder Baum hatte seinen eigenen Farbton: gelb wie Bernstein, Zitrone, Safran; oder braun wie Haselnuß, Ingwer oder dunkles Mahagoni. Geh im Herbst in den Wald, Annie«, hatte sie zu mir gesagt, »für eine Malerin wie dich sind all diese Farben doch bestimmt sehr anregend.«
Das war richtig, aber wenn ich jetzt daran dachte, fielen mir nur wieder die Waldspaziergänge mit Luke ein… Wie sehr wünschte ich mir, er wäre jetzt bei mir, jetzt, da ich wieder auf meinen eigenen Füßen stand! Doch er war wieder auf dem College und versuchte wohl, mich zu vergessen.
Ich begann ein Bild von Luke zu malen. Zuerst skizzierte ich den Pavillon und dann ihn, wie er dort stand und nachdenklich über die Felder blickte. Während ich an dem Bild arbeitete, ließ der Schmerz ein wenig nach, sobald ich jedoch aufhörte zu malen, fühlte ich wieder den furchtbaren Verlust… Ich zögerte die Fertigstellung des Bildes hinaus, fand hier und dort noch etwas zu verbessern, fügte die eine oder andere Kleinigkeit hinzu und veränderte ein paar Details. Wenn ich dann den Pinsel weglegte und zurücktrat, wußte ich nicht, ob ich das Bild eher liebte oder haßte.
Ich hatte mein ganzes Gefühl in dieses Bild gelegt. Luke war gut getroffen – die Haltung, wie er seinen Kopf ein wenig nach rechts neigte, wenn er intensiv über etwas nachdachte; die Haarsträhnen, die ihm immer in die Stirn zu fallen schienen; der Ausdruck, den seine Augen annahmen, wenn er mich ansah und meine Liebe zu ihm in den meinen erkannte.
Aber das Bild verhöhnte und quälte mich. Es weckte die Sehnsucht in mir, seine Stimme zu hören und zu spüren, daß er da war. Das also ist es, was einen Künstler in einen glücklichen Rausch versetzt und gleichzeitig martert, dachte ich: Die Liebe zu etwas, was man selbst geschaffen hat und doch niemals wirklich besitzen kann.
Ich wurde richtig schwermütig, wenn mich solche Gedanken überkamen. Früher, wenn ich Sorgen und Kummer hatte, konnte ich zu Mammi gehen. Dann bedachte sie mich mit ihrem wärmsten Lächeln, und wie durch einen Zauber wurde mir sogleich leichter ums
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