Nacht über Eden
College abgeschlossen, und er will mir trotzdem schon jetzt Verantwortung übertragen! Er hat hier in Boston sogar bereits eine Wohnung für mich gefunden. Ist das nicht wunderbar?«
»O ja, Drake. Ich freue mich so für dich.« Ich wandte mich ab. Ich wußte, daß ich ungerecht gegenüber Drake war, aber Fröhlichkeit schien mir in diesem Moment unangebracht. Die gesamte Welt sollte um meine Eltern und um mich trauern, dachte ich. Der dunkle Schleier, der sich über alles gebreitet hatte, hielt mich noch immer gefangen. Wie blau der Himmel auch in Wirklichkeit sein mochte, mir erschien er grau.
»Du klingst nicht sehr glücklich. Ist es wegen der Medikamente, die du nimmst?«
Wir blickten uns für einen Augenblick an, und ich sah wieder die Trauer in seinem Gesicht. »Nein«, fuhr ich fort, »ich habe nur viel über Tony nachgedacht. Ich kann nicht anders als mich fragen, warum er so plötzlich in unser Leben getreten ist und sich so selbstlos um uns kümmert. Die ganze Zeit über hat unsere Familie ihn so behandelt, als wäre er Luft. Man könnte annehmen, daß er uns eigentlich hassen müßte. Verwundert dich das nicht auch?«
»Was ist daran merkwürdig? Eine furchtbare Katastrophe ist geschehen… und er gehört ja schließlich zur Familie; ich meine, er war mit deiner Urgroßmutter verheiratet, mit der Großmutter meiner Stiefschwester. Und er hat doch sonst niemanden. Sein jüngerer Bruder hat Selbstmord begangen, weißt du«, fügte Drake flüsternd hinzu.
»Sein jüngerer Bruder? Ich habe nie von ihm gehört.«
»Nun, Logan hat mir einmal von ihm erzählt. Anscheinend war er ein sehr introvertierter Mensch, der sich gern absonderte und in einer Hütte hinter einem Irrgarten lebte.«
»Hütte? Hast du Hütte gesagt?«
»Ja.«
»So eine, wie meine Mutter sie in ihrem Zimmer hatte – die kleine Spieluhr, die sie mir an meinem Geburtstag geschenkt hat?«
»Nun, darüber habe ich nie nachgedacht… aber ja, ich denke schon. Warum fragst du?«
»Ich träume immer noch davon und erinnere mich an die Musik und wie Mammi mich früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, von Zeit zu Zeit hineinsehen ließ. Manchmal, wenn ich aus einem kurzen Schlummer aufwache, denke ich, ich wäre wieder zu Hause. Und dann sehe ich mich nach meinen Sachen um, lausche ob ich Mammis oder Daddys Stimme hören kann, und will nach Mrs. Avery rufen. Aber dann… fällt mir alles wieder ein. Eine kalte dunkle Welle überspült mich und treibt mich zurück in die furchtbare, grausame Wirklichkeit. Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren, Drake? Ist das ein Teil meiner Krankheit, von dem mir niemand etwas sagen will? Bitte, du mußt es mir sagen.
Ich muß es wissen!«
»Du bist jetzt nur ein wenig verwirrt«, sagte er, und seine Stimme klang beruhigend. »Deine Erinnerungen vermischen sich. Das ist nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, was du durchgemacht hast. Du hättest nur den Unsinn hören sollen, den du erzählt hast, als ich dich im Krankenhaus von Winnerrow besucht habe.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Was für einen Unsinn?« fragte ich erschrocken. Sollte Drake meine geheimsten Gedanken erraten haben? Meine Gedanken über Luke?
»Nur dummes Zeug. Mach dir deshalb keine Gedanken«, sagte er und winkte ab. »Und mach dir keine Sorgen wegen deiner Behandlung. Ich werde den ganzen Sommer über in deiner Nähe sein und dich an den Wochenenden in Farthinggale Manor besuchen. Ich bin jetzt für dich verantwortlich, Annie. Und ich habe vor, mich wirklich um dich zu kümmern. Aber ich muß auch an meine berufliche Laufbahn denken. Mir liegt die Unabhängigkeit im Blut. Ich will mir alles selbst erarbeiten und allein meinen Weg gehen«, sagte er stolz.
Dann erzählte er mir von seinen Aufgabe in Tony Tattertons Unternehmen, doch seine Worte schienen von weit her zu kommen, und schließlich folgte ich seinen Ausführungen nicht mehr. Die Augen fielen mir immer wieder zu. Nach einer Weile bemerkte er, daß ich ihm nicht zuhörte.
»Jetzt sitze ich also da und rede dich in den Schlaf, ohne es zu merken«, sagte er lachend. »Vielleicht können sie mich hier zur Behandlung von Schlaflosigkeit anstellen.«
»Es tut mir leid, Drake, ich wollte ja zuhören. Ich habe das meiste, was du erzählt hast, gehört, und…«
»Alles in Ordnung. Ich bin wahrscheinlich sowieso zu lange geblieben.« Er erhob sich.
»O nein, Drake, ich bin so froh, daß du hier bist«, rief ich.
»Du brauchst jetzt viel Ruhe, Annie. Ich
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