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Nacht über Juniper

Titel: Nacht über Juniper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Cook
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»Herz oder Tome?« Herz und Tome sind die einzigen größeren Städte in Tally. In Herz gibt es einen Kö-
    nig, der mit der Lady verbündet ist. Nachdem Wisper seinen Vorgänger umgebracht hatte,
hatte sie ihn vor zwei Jahren gekrönt. Bei den Tallynern ist er nicht beliebt. Meine ungebetene Meinung lautet, daß sie ihn loswerden sollte, bevor er ihr weiteren Schaden zufügt. Goblin entfachte ein Feuer. Morgens war es recht kalt. Er kniete sich davor und wärmte sich die Finger.
Einauge stöberte hinter Madles Theke herum und fand einen Bierkrug, der der Verwüstung auf wundersame Weise entgangen war. Er leerte ihn in einem Zug, wischte sich über das Ge- sicht, musterte den Raum und zwinkerte mir zu. »Ich glaub’, es geht schon wieder los«, murmelte ich. Der Hauptmann sah auf. »Was?«
»Einauge und Goblin.«
»Ach so.« Er beugte sich wieder über seine Arbeit und sah nicht wieder auf. Vor dem froschgesichtigen kleinen Goblin bildete sich ein Gesicht in den Flammen. Er sah es nicht. Er hatte die Augen geschlossen. Ich sah zu Einauge. Sein Auge war ebenfalls zu, und sein Gesicht war in Falten gelegt, eine Runzel über der nächsten, über denen der Schatten seines Schlapphuts lag. Das Gesicht im Feuer wurde deutlicher. »Hey!« Ich zuckte kurz zusammen. Es blickte in meine Richtung und sah wie das der Lady aus. Nun ja, wie das Gesicht, das die Lady gehabt hatte, als ich sie das eine Mal tatsächlich gesehen hatte. Das war während der Schlacht um Charm gewesen. Sie hatte mich zu sich be- stellt, um meinen Verstand nach Hinweisen auf eine Verschwörung unter den Zehn Unterwor- fenen auszuwringen… Ein furchtsamer Schauer erfaßte mich. Damit lebte ich nun schon seit Jahren. Falls sie mich je wieder verhört, verliert die Schar ihren ältesten Feldscher und Chro- nisten. Ich verfüge mittlerweile über Wissen, für das sie ganze Königreiche plattmachen wür- de.
Das Gesicht im Feuer streckte eine salamanderähnliche Zunge aus. Goblin quiekte auf. Er sprang hoch und hielt sich die angesengte Nase. Mit dem Rücken zu seinem Opfer schenkte sich Einauge ein neues Bier ein. Goblin machte ein böses Gesicht, rieb sich die Nase und nahm wieder Platz. Einauge drehte sich weit genug herum, daß er ihn aus dem Augenwinkel beobachten konnte. Er wartete, bis Goblin wieder einnickte.
Das geht schon seit Ewigkeiten so. Beide waren schon lange in der Schar, bevor ich eintrat, Einauge mindestens seit einem Jahrhundert. Er ist alt, aber so munter wie Männer in meinem Alter.
Vielleicht noch munterer. In letzter Zeit spüre ich die Zeit immer schwerer auf mir lasten und grübele zu oft über all das nach, was ich verpaßt habe. Ich kann wohl über Bauern und Stadtfräcke lachen, die ihr Leben lang an eine kleine Ecke der Welt gekettet sind, während ich sie durchstreife und ihre Wunder sehe, aber wenn ich falle, wird es kein Kind geben, das mei- nen Namen trägt, keine Familie außer meinen Kameraden, die mich betrauern, keinen, der meiner gedenkt, keinen, der auf meinem Grab einen Gedenkstein errichtet. Obwohl ich Zeuge großer Geschehnisse geworden bin, werde ich außer diesen Annalen keine Errungenschaften zurücklassen.
    Welch Hochmut. Meine eigene Grabschrift als Geschichte der Schar verkleidet niederzu-
schreiben.
Ich entwickele allmählich eine Neigung zum Morbiden. Darauf sollte ich achten. Einauge formte mit den Händen eine Kuppel auf der Theke, murmelte etwas und öffnete sie. Eine häßliche faustgroße Spinne mit dem buschigen Schwanz eines Eichhörnchens erschien. Man soll nicht sagen, daß Einauge keinen Sinn für Humor hat. Sie krabbelte auf den Boden, huschte zu mir, grinste mich mit Einauges schwarzem Gesicht ohne Augenklappe an, und flitzte dann zu Goblin hinüber.
Das wahre Wesen der Zauberei besteht – selbst für diejenigen, die sie praktizieren und keine Schwindler sind – aus Täuschung. Was auch auf die dickschwänzige Spinne zutraf. Goblin döste nicht. Er lag im Hinterhalt. Als sich die Spinne näherte, wirbelte er herum und holte mit einem Feuerholzprügel aus. Die Spinne wich aus. Goblin drosch auf den Boden ein. Vergeblich. Sein Ziel huschte umher und keckerte mit Einauges Stimme. Das Gesicht tauchte wieder in den Flammen auf. Die Zunge schoß hervor. Rauch stieg von Goblins Hosenboden auf.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, sagte ich. »Was denn?« fragte der Hauptmann, ohne aufzusehen. Er und der Leutnant stritten sich ge- rade über die Frage, ob nun Herz oder Tome der bessere Stützpunkt

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