Nacht unter Tag
kommt das her?«, erkundigte sie sich.
»Angie Mackenzie ist eine Frau mit Weitblick«, antwortete Karen. »Sie hat es bei ihrem Anwalt hinterlegt. Nur für den Fall, dass jemals eine Leiche auftauchen sollte.« Während sie sprach, tippte River schon etwas in ihren Laptop ein.
»Ich werde einen ausführlichen Bericht schreiben«, sagte sie langsam, abgelenkt von dem, was sie sich anschaute. »Und ich werde das einscannen müssen, um sicherzugehen … Aber auf den ersten Blick kann ich dir inoffiziell schon mal sagen, dass diese beiden Menschen nah verwandt sind.« Sie sah auf. »Du hast deine rätselhafte Leiche identifiziert, wie es scheint.«
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Siena
B el fragte sich, wie man als Enthüllungsjournalist in Italien klarkam. Sie hatte die britische Bürokratie für anstrengend und lästig gehalten. Aber im Vergleich zum italienischen Papierkrieg hatte man freien Zugang zu allen Bereichen. Zuerst hatte es ein Hin und Her zwischen verschiedenen Büros gegeben. Dann die Ausflucht, Formulare seien auszufüllen. Dann leere Blicke und Nichtbeachtung durch Beamte, die sich offensichtlich dadurch gestört fühlten, dass ihre Muße unterbrochen und von ihnen verlangt wurde, ihre Arbeit zu tun. Es war ein Wunder, dass es in diesem Land jemals irgendjemandem gelang, etwas herauszufinden.
Gegen Ende des Vormittags befürchtete sie schon, die Zeit werde ihr davonlaufen, bevor sie erfahren konnte, was sie wissen musste. Dann, nur Minuten, bevor das Standesamt zur Mittagspause schloss, rief eine gelangweilt aussehende Wasserstoffblondine ihren Namen. Bel eilte zum Schalter und war ziemlich sicher, dass man sie auf den nächsten Tag vertrösten würde. Aber im Austausch für ein Bündel unquittierter Euros wurden ihr zwei Blätter ausgehändigt, die aussahen, als seien sie auf einem Kopierer mit arg spärlichem Toner gemacht. Das eine war überschrieben mit
Certificato di Morte,
das andere mit
Certificato di Residenza.
So hatte sie letztendlich mehr bekommen als das, womit sie gerechnet hatte.
Auf dem Totenschein von Daniel Simeon Porteous stand nur, dass er am 7. April 2007 im Alter von zweiundfünfzig Jahren in der Poliklinik Le Scotte in Siena verstorben war. Seine Eltern hießen Nigel und Rosemary Porteous. Und das war’s. Keine Todesursache, keine Adresse. Völlig nutzlos, dachte Bel bitter.
Sie überlegte, ob sie zum Krankenhaus gehen sollte, um zu sehen, ob sie dort etwas herausfinden konnte, verwarf die Idee aber sofort. Die Mauern der Bürokratie zu durchbrechen würde unmöglich sein für jemanden, der das System nicht kannte. Und die Aussichten, einen Menschen zu finden, der sich bestechen ließ und sich nach mehreren Monaten noch an Daniel Porteous erinnerte, waren gering. Außerdem überstieg das Ganze wahrscheinlich ihre sprachlichen Fähigkeiten.
Mit einem Seufzer wandte sie sich dem anderen Blatt zu. Es schien eine kurze Liste von Adressen und Daten zu sein. Sie brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass es eine Aufstellung von Daniels Wohnorten war, seit er 1986 in die Comune di Siena gekommen war. Und dass die letzte Adresse diejenige war, wo er zuletzt gewohnt hatte. Noch überraschender war, dass sie auch gleich wusste, wo es war. Costalpino war das letzte Dorf, durch das sie auf ihrem Weg nach Campora gekommen war. Die Landstraße schlängelte sich in einer Kurvenserie zur Hauptstraße hinunter und dann zwischen Häusern und hier und da einem Laden oder einem Café durch den Ort.
Trotz der stickigen Mittagshitze rannte Bel fast zum Auto zurück. Sie keuchte vor Dankbarkeit, als sich die Klimaanlage anschaltete, und verschwendete keine Zeit, sondern fuhr sofort vom Parkplatz weg auf die Straße Richtung Costalpino. Der Mann hinter dem Tresen des ersten Cafés, an dem sie vorbeikam, gab ihr eine ausgezeichnete Wegbeschreibung, und schon fünfzehn Minuten, nachdem sie Siena verlassen hatte, parkte sie ein Stück von dem Haus entfernt, in dem sie hoffentlich Gabriel Porteous vorfand. Es war eine angenehme Straße, breiter als die meisten in diesem Teil der Toskana. Hohe Bäume spendeten Schatten für die schmalen Gehsteige, und hüfthohe Mauern mit Eisengittern trennten die kleinen, aber gepflegten Häuser voneinander. Bel spürte, wie die Erregung in ihrer Brust pulsierte. Wenn ihre Vermutungen zutrafen, stände sie gleich dem verlorenen Sohn von Catriona Maclennan Grant gegenüber. Die Polizei hatte zweimal versagt, aber Bel Richmond würde ihnen allen gleich zeigen, wie man so etwas
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