Nacht unter Tag
beschäftigt. Aber als Kind hatte er die Ferien mit ihnen verbracht, während sein Vater ein paar Wochen allein verreiste. Gabriel war am Ende der Ferien braun gebrannt, hatte wirre, lange Haare und aufgeschürfte Knie. Daniel kam mit einer Mappe voll neuer Arbeiten von weither: aus Griechenland, Jugoslawien, Spanien, Nordafrika. Gabriel war immer froh, seinen Vater zu sehen, aber seine Freude wurde dadurch getrübt, dass er von Ursulas und Matthias’ Erziehung der leichten Hand Abschied nehmen musste.
Jetzt fielen sich die beiden Männer am Friedhofstor wortlos in die Arme und klammerten sich aneinander wie Schiffbrüchige an Treibholz, egal wie wenig Halt es bot. Schließlich lösten sie sich voneinander, und Matthias klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Komm doch mit«, bat er.
»Du hast einen Brief für mich«, sagte Gabriel und ging neben ihm her.
»Er ist in der Villa.«
Ein Bus zum Bahnhof, ein Zug nach Siena, dann in Matthias’ Van zurück zur Villa Totti, und dabei sprachen sie kaum ein Wort. Der Kummer umhüllte sie, ließ sie die Köpfe neigen und die Schultern senken. Als sie die Villa erreichten, war Alkohol die einzige Lösung, die für beide erträglich war. Gott sei Dank war der Rest der BurEst-Gruppe schon früher zu einer Vorstellung nach Grosseto aufgebrochen, so dass Gabriel und Matthias ihren Toten allein betrauern konnten.
Matthias goss den Wein ein und legte einen dicken Umschlag vor Gabriel hin. »Das ist der Brief«, erklärte er, setzte sich und rollte einen Joint.
Gabriel nahm ihn und legte ihn wieder ab. Er trank sein Glas Wein fast aus und fuhr mit dem Finger am Rand des Umschlags entlang. Dann trank er noch mehr, nahm einen Zug von dem Joint und trank weiter. Er konnte sich nicht vorstellen, was Daniel ihm auf so viel Papier zu sagen haben könnte. Es schien auf ein Geständnis hinzudeuten, und Gabriel war nicht sicher, dass er im Moment ein Geständnis wollte. Es war schmerzhaft genug, die Erinnerung an das festzuhalten, was er verloren hatte.
Irgendwann stand Matthias auf und legte eine CD in einen tragbaren CD -Player. Gabriel war überrascht, dass es die gleiche Musik war, die er zuvor gehört hatte und deren starke Dissonanzen er wiedererkannte. »Dad hat mir das geschickt«, erzählte er. »Er hat mir gesagt, ich solle das heute spielen.«
Matthias nickte. »Gesualdo. Er hat seine Frau und deren Geliebten umgebracht, weißt du. Manche behaupten, dass er seinen zweiten Sohn getötet hätte, weil er zweifelte, dass er wirklich sein Vater war. Und angeblich auch seinen Schwiegervater, weil der alte Mann auf Rache aus war, aber Gesualdo konnte seinem Vergeltungsschlag zuvorkommen. Dann bereute er es und hat den Rest seines Lebens geistliche Musik geschrieben. Da sieht man es mal wieder. Man kann schreckliche Dinge tun und trotzdem Erlösung finden.«
»Das kapier ich nicht«, gestand Gabriel beunruhigt. »Warum will er, dass ich mir das anhöre?« Sie waren schon bei der zweiten Flasche Wein und dem dritten Joint. Er fühlte sich ein bisschen schwummerig im Kopf, aber nicht besonders schlimm.
»Du solltest wirklich den Brief lesen«, mahnte Matthias.
»Du weißt, was drinsteht«, bemerkte Gabriel.
»So ungefähr.« Matthias stand auf und ging auf die Tür zu. »Ich geh auf die Loggia Luft schnappen. Lies den Brief, Gabe.«
Es war schwierig, nicht das Gefühl zu haben, dass in dem Brief, der unter solchen Umständen übergeben worden war, etwas Unheilvolles wartete. Und es war schwer, die Angst zu unterdrücken, dass die Welt für immer verändert sein würde. Gabriel wünschte, er könnte einfach passen, den Brief ungeöffnet lassen und sein Leben unverändert weiterführen. Aber die letzte Botschaft seines Vaters konnte er nicht missachten. Hastig nahm er den Brief und riss ihn auf. Seine Augen wurden feucht, als er die vertraute Schrift sah. Aber er zwang sich zu lesen.
Lieber Gabriel,
ich wollte dir schon immer die Wahrheit über dich selbst sagen, aber es hat sich nie eine passende Gelegenheit ergeben. Jetzt liege ich im Sterben, und du verdienst es, die Wahrheit zu erfahren; aber ich habe zu große Angst, es auszusprechen, weil du weglaufen und mich alleinlassen könntest und ich mich dem Ende allein stellen müsste. Deshalb schreibe ich diesen Brief, den du von Matthias bekommen wirst, nachdem ich gestorben bin. Versuch, nicht zu streng mit mir zu sein. Ich habe Dummheiten gemacht, aber nur aus Liebe.
Das Erste, was ich dir sagen möchte, ist, obwohl ich dich
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